»Ihr Erklärungsbedarf wird immer größer«, ließ Juricek David wissen. »Aber schauen wir einmal nach oben. Dort sollten wir auf Jennifer Winkler, die Tochter der Toten, treffen.«
Mittlerweile hatten sich auch die ersten Leute von der Spurensicherung eingefunden. Katja Winklers Wohnung, zuerst noch so schrecklich leer, füllte sich rasch mit Leben. Ihre Tochter Jennifer identifizierte David als den Mann, den sie bei ihrer Mutter überrascht hatte. Dann schilderte sie Juricek mit Tränen in den Augen den Ablauf der Dinge aus ihrer Sicht: »Ich bekam eine SMS von meiner Mutter: ›Ruf die Polizei und komm schnell. Bin in Gefahr!‹« Sie zeigte Juricek den Text auf ihrem Handy. »Ich habe sofort die Polizei alarmiert und bin gleich hergefahren. Da ich nicht weit weg war, ist es sehr schnell gegangen und ich bin gerade gekommen, als der Mörder dabei war zu fliehen. Meiner Mutter habe ich leider nicht mehr helfen können.«
»Haben Sie vorher noch versucht, sie telefonisch zu erreichen?«, wollte Juricek wissen.
»Sicher! Aber sie hat nicht abgehoben«, schluchzte Jennifer. »Da wurde ich richtig panisch.«
»Kennen Sie den Mann, der Ihnen in der Wohnung begegnet ist?«
»Ich habe ihn noch nie in meinem Leben gesehen.«
»Wieso sind Sie dann zu dem Schluss gekommen, dass er der Täter ist?«
»Wer sollte es sonst sein? Er hat sich mehr als verdächtig benommen.«
Juricek musterte Jennifer. Sie war noch keine 20 Jahre alt. »Wohnen Sie noch bei Ihren Eltern?«, fragte er.
Sie schüttelte den Kopf. »Zum einen sind meine Eltern geschieden, zum anderen bin ich im Sommer endgültig von hier ausgezogen«, sagte sie, nun schon etwas gefasster. »Aber ich habe natürlich noch einen Schlüssel.«
»Sie leben allein?«
»Ja, in der Wohnung meiner Großtante Erna in Floridsdorf, die im Frühjahr leider verstorben ist. Ich war vorher schon mehr bei ihr als bei meiner Mutter. Es ist praktisch, weil ich dort ins Gymnasium gehe und im Sommer die Matura mache.«
Respekt, dachte Juricek. Patentes Mädel. Geht noch zur Schule, hat aber bereits eine eigene Bleibe und fährt mit dem Auto durch die Gegend. »Sie hatten also nur mehr losen Kontakt zu Ihrer Mutter?«, forschte er.
»Bitte fragen Sie mich nicht so viel«, jammerte Jennifer. »Sehen Sie nicht, in welchem Zustand ich bin? Meine Mutter ist gerade gestorben. Egal, wie oft ich sie in letzter Zeit gesehen habe und wie gut wir uns vertragen haben, sie war meine Mutter. Sie haben den Mörder doch schon. Ich verstehe gar nicht, warum Sie so viel von mir wissen wollen.«
Juricek hatte ein Einsehen. »Davon, dass der Fall bereits gelöst ist, kann keine Rede sein«, informierte er Jennifer. »Aber wenn Sie möchten, setzen wir die Befragung später fort. Denken Sie vor allem darüber nach, mit wem Ihre Mutter häufigen Umgang pflegte, ob sie Feinde hatte, ob Sie sich an etwas erinnern, was Sie mit dem Mord in Zusammenhang bringen können. Sie müssen sich auf jeden Fall zu unserer Verfügung halten. Vorerst eine letzte Frage: Besitzt Ihre Mutter Schmuck?«
Jennifer blickte auf. Sie wirkte erleichtert, dass sie nur mehr über so etwas Triviales Auskunft geben musste. »Jede Menge«, erklärte sie. »Sie hat alles hier bei sich in einem Safe.«
Juricek zeigte ihr die Halskette, die man bei David Panozzo gefunden hatte. »Gehört die ihr?«, fragte er.
»Sicher! Ich habe sie schon ein paarmal damit gesehen«, nickte Jennifer aufgeregt. »Hat er sie deswegen umgebracht?«
»Wir wissen vorerst noch gar nichts über Täter und Motiv«, gab sich Juricek bedeckt. Nachdem er sich ein Bild vom Tatort und der Leiche gemacht hatte, wandte er sich David Panozzo zu.
*
Juricek hörte sich Davids Schilderung der Ereignisse aus seiner Sicht in aller Ruhe an: Wie er in die Wohnung gekommen und von hinten niedergeschlagen worden war, nachdem er die Tote entdeckt hatte; wie er nach einigen Minuten aus seiner Ohnmacht erwacht und in Panik geraten war; und schließlich, wie er nach seinem Zusammenstoß mit Jennifer Winkler erfolglos versucht hatte, davonzulaufen.
»Ich verstehe nicht, warum Sie so reagiert haben, wenn Sie keine Schuld trifft«, bohrte Juricek. »Sie sind doch sonst kein Angsthase und schon gar kein kopfloser Mensch.«
»Wenn Sie’s genau wissen wollen: Ich habe mich hundsmiserabel gefühlt«, führte David aus. »Ich hatte Kopfschmerzen, die Beine waren schwach und der Magen flau. Außerdem war ich allein mit der Toten. Ihr Gesicht hat so einen schrecklichen Ausdruck gehabt. Ich habe es einfach nicht mehr ausgehalten.«
»Wie kommt der Nylonstrumpf in Ihre Sakkotasche?«
»Das weiß ich nicht. Ich nehme an, die Person, die mich niedergeschlagen hat, hat ihn mir hineingesteckt.«
»Die Halskette hatten Sie laut Ihren Angaben aber bei sich, um sie Frau Winkler zurückzugeben. Sie behaupten, sie habe sie Ihnen schenken wollen. Warum hätte sie das tun sollen?«
David Panozzo wetzte unruhig im Vorzimmer auf dem Klappstuhl hin und her, auf den man ihn gesetzt hatte. »Frau Winkler hat sich wahrscheinlich einsam gefühlt und wollte mich näher kennenlernen«, räumte er ein und wurde dabei sehr leise. »Ich vermute, sie hat mir die Kette zugesteckt, damit ich mich ihr verpflichtet fühle.«
»Haben Sie die Kette irgendjemandem gezeigt oder jemandem von ihr erzählt? Ihren Kolleginnen und Kollegen im Schopenhauer etwa?«, fragte Juricek.
David lachte gereizt auf. »Nein, sicher nicht«, dementierte er sofort. »Das wäre doch urpeinlich gewesen.«
»Es wusste also niemand davon – außer Ihnen?«
»Nein!«
»Hatten Sie sexuelle Handlungen mit Frau Winkler?«
»Um Gottes willen, nein! Ich stehe nicht auf alte Frauen. Was soll diese geschmacklose Frage?«
»Ich versuche, einen Grund zu finden, warum Ihnen Frau Winkler diese Kette hätte schenken sollen«, setzte ihm Juricek auseinander. »Ihr Aussehen und Ihre zuvorkommende Art allein reichen meiner Ansicht nach dafür nicht aus. Soll ich Ihnen Ihre Geschichte glauben? Die Kette scheint mir wertvoll zu sein – in Gold eingefasste Edelsteine, soviel ich gesehen habe. Ihren Ausführungen zufolge kann niemand bestätigen, dass Sie sie bereits einige Zeit bei sich hatten. Sie könnten sie also genauso gut erst heute aus der Wohnung mitgenommen haben.«
David Panozzo schluckte. »Sie meinen … ich hätte …«
»Ich meine gar nichts, aber Sie müssen zugeben, dass dieses Stück ein logisches Motiv für den Mord an Frau Winkler wäre«, erklärte Juricek.
»Ich war’s aber nicht! Der Mörder war bereits vor mir da. Er hat mir die Tür geöffnet, sich versteckt und mich dann niedergeschlagen. Sie sehen doch, dass ich am Kopf verletzt bin«, wehrte David sich.
»Ich bestreite das nicht«, stellte Juricek klar. »Der Gegenstand war vermutlich ein Aschenbecher. Neben der Leiche liegt einer auf dem Boden. Könnte es aber nicht Frau Winkler gewesen sein, die damit zugeschlagen hat, weil sie sich verzweifelt gegen Sie zur Wehr setzte? Dass Sie nicht für kurze Zeit das Bewusstsein verloren haben, wie Sie behaupten, sondern nur einen plötzlichen starken Schmerz verspürt haben, der Sie nicht daran gehindert hat, die Frau mit einem ihrer Nylonstrümpfe zu erwürgen? Dass Sie daraufhin in Panik geraten sind, Strumpf samt Halskette eingesteckt haben und einfach raus aus der Wohnung wollten, wobei Ihnen Frau Winklers Tochter Jennifer in der Tür begegnet ist?«
»Was reden Sie da daher? Ich habe die Frau nicht umgebracht. Sie kennen mich doch, Herr Oberinspektor! Sie wissen, dass ich zu so etwas nicht fähig bin«, verteidigte David Panozzo sich verzweifelt.
»Wozu Sie fähig sind, kann ich nicht beurteilen«, blieb Juricek sachlich. »Die Indizien sprechen aber allesamt gegen Sie. Wir werden Ihre Fingerabdrücke nehmen und schauen, wo wir sie überall finden. Wir werden den Aschenbecher und den Nylonstrumpf