»Wenn ich mich recht erinnere, haben Sie zeitweise einen sehr leichtsinnigen Umgang mit Geld gepflegt. Und die Kette ist einiges wert, das sehe sogar ich als Laie. So viel dazu. Wir werden alles nachprüfen, aber der Hauptverdächtige sind aufgrund der Faktenlage vorläufig Sie«, eröffnete Juricek dem betrübten David Panozzo. »Ich muss Sie deshalb bitten, uns zu begleiten.«
Kapitel 4
Frau Heller träumte in diesen Tagen wieder oft von vergangenen Zeiten. Herr Heller beschränkte sich seit geraumer Zeit bei der Arbeit im Kaffeehaus auf das Notwendigste, wirkte auch sonst nicht sehr unternehmungslustig und verbrachte seine Freizeit lieber vor dem Fernsehapparat als mit seiner Frau. Normalerweise hätte das Frau Heller gar nicht so gestört. Man war viele Jahre verheiratet, die Ehe verlief in eingefahrenen Bahnen, aber man konnte sich aufeinander verlassen, und das Kaffeehaus war sowieso der Lebensmittelpunkt, der alles andere in den Hintergrund drängte.
Doch nun waren Erinnerungen an Moritz Bäcker wach geworden. Der Seniorchef des Café Schopenhauer war einmal ihr großer Schwarm gewesen. Obwohl sie ihrem Heinrich bereits versprochen gewesen war, hatte Sidonie Heller sich nichtsdestotrotz heimlich mit Moritz getroffen und mit ihm das eine oder andere Schäferstündchen verbracht. Sie machte sich heute deswegen keine Vorwürfe. Sie hatte damals nicht anders gekonnt. Hätte sie sich diesem Mann nicht hingegeben, hätte sie nachher immer das Gefühl gehabt, sie habe etwas versäumt. So hatte sie genossen und war danach die Ehe mit ihrem Heinrich eingegangen, die bis zum heutigen Tag gehalten hatte. Herr Heller hatte nie von diesem Gspusi erfahren, nur Leopold hatte sie in einer schwachen Stunde etwas darüber gebeichtet. Gott sei Dank konnte sie sich hundertprozentig auf die Diskretion ihres Oberkellners verlassen.
Mit Leopolds Besuch im Schopenhauer hatte die Gestalt des Moritz Bäcker wieder von Frau Hellers Gedanken Besitz ergriffen. Natürlich war es eine idealisierte Gestalt, der charmante Draufgänger aus früheren Tagen. Der Verführer mit der Schmalzlocke, der einer Frau einreden konnte, dass nur sie für ihn existierte, auch wenn das nicht stimmte. Kurzum, der Mann, in den sie einmal verliebt gewesen war.
»Wann gehen Sie denn wieder einmal unseren David im Schopenhauer besuchen?«, fragte sie deshalb scheinheilig in Leopolds Richtung. Soeben senkte sich der Abend über das Café Heller, und das weckte in ihr romantische Gefühle.
»Jetzt sicher eine ganze Weile nicht«, gab ihr Leopold zur Antwort, während er eine Melange von der Theke abholte. »Ich hab meinen Anstandsbesuch gemacht und weiß, dass es ihm dort gut geht. Das ist die Hauptsache. Das Schopenhauer interessiert mich nicht, weil dort ganz andere Sitten und Gebräuche herrschen als bei uns. Das verwirrt mich nur.«
»Sie könnten sich dort einiges abschauen, was die Freundlichkeit den Gästen gegenüber betrifft«, erinnerte ihn Frau Heller. »Es schadet Ihnen also überhaupt nicht, wenn Sie wieder einmal hingehen. Das wäre ganz in meinem Sinn!«
Leopold fragte sich, was das nun wieder sollte. »Glauben Sie wirklich, dass das vonnöten ist? Es läuft doch gut bei uns. Und ich halte es eben mit der Tradition«, befand er.
»Dann gehen Sie am besten zum Herrn Moritz! Der kann Ihnen eine Menge über die Geschichte des wertschätzenden Umgangs in seinem Haus erzählen«, forderte Frau Heller ihn auf.
Jetzt ging Leopold ein Licht auf. »Ah, daher weht der Wind! Es geht Ihnen gar nicht um die Freundlichkeit, es geht Ihnen um den Seniorchef! Sie wünschen offenbar, dass ich etwas über sein wertes Befinden in Erfahrung bringe und ihn schön von Ihnen grüßen lasse«, ließ er seine Chefin wissen.
»Seien Sie still«, ordnete Frau Heller an, wobei sich ihr Gesicht verräterisch rötete. »Wärmen Sie bitte nicht diese alten Geschichten auf, in die ich Sie leider einmal eingeweiht habe.«
»Aber ein bisserl nachfragen soll ich schon«, ließ sich Leopold nicht beeindrucken.
»Wenn Sie hingehen, warum nicht«, deutete Frau Heller vorsichtig an. »Aber ich habe Sie nicht darum gebeten, ist das klar?«
»Vollkommen klar, Frau Sidonie«, versicherte Leopold. »Ich weiß, was Sie meinen. Außerdem bin ich die Verschwiegenheit selbst. Ich mach ja gern wieder einen Sprung ins Schopenhauer, wenn ich mir die dortigen Unarten nicht auf meine alten Tage noch angewöhnen muss. Jetzt, wo unser David dort arbeitet …«
Bei diesen Worten nahm Leopold eine bekannte Gestalt neben sich wahr, nämlich die seines Freundes, des Oberinspektors Juricek, dessen breitkrempiger Sombrero einen Schatten auf die Theke warf. »Servus, Richard! Was machst du denn hier?«, fragte er verwundert.
»Ich bin gekommen, um dir mitzuteilen, dass du David Panozzo derzeit leider nicht im Schopenhauer besuchen kannst«, verkündete Juricek, der beim Hereinkommen den letzten Teil des Gespräches zwischen Leopold und Frau Heller mitgehört hatte.
»Und warum nicht?«, staunte Leopold.
Juricek informierte ihn und Frau Heller daraufhin über den Mord an Katja Winkler und den dringenden Tatverdacht gegen David. Derweil schlürfte er genüsslich an einem von Leopold liebevoll zubereiteten großen Braunen.
»Eins sag ich dir, Richard: David hat es zwar manchmal faustdick hinter den Ohren, aber zu so einer Tat ist er nicht fähig«, machte Leopold seinem Ärger sofort Luft. »Das müsstest du eigentlich auch wissen. Du hättest ihn nicht gleich einsperren dürfen.«
»Was ist mir denn anderes übrig geblieben?«, rechtfertigte der Oberinspektor sich. »Ich muss mich an der Faktenlage orientieren. Ich habe einen öffentlichen Auftrag. Nehmen wir einmal an, wir beide würden David Panozzo nicht kennen. Welche Indizien gibt es? Ein Mann läuft aus einer Wohnung, in der gerade ein Mord begangen worden ist. Er hat den Mord nicht gemeldet. In der einen Sakkotasche findet man die Mordwaffe, in der anderen eine wertvolle Halskette, die der Toten gehört. Es stellt sich heraus, dass der Mann das Opfer persönlich kannte. Seine Geschichte, er sei vom Täter niedergeschlagen worden, erweist sich als äußerst zweifelhaft, da auf dem dazu benutzten Aschenbecher nur die Fingerabdrücke von Frau Winkler zu finden sind. Wenn ich da keinen Haftantrag stelle, bekomme ich die größten Schwierigkeiten. Jede Wette, dass der Richter morgen alles bestätigt.«
»Ehrlich: Glaubst du, dass er’s war?«, stellte Leopold seinem Freund die Gewissensfrage.
»Was ich glaube, ist im Moment zweitrangig«, antwortete Juricek ausweichend.
»Du musst unbedingt nach Beweisen suchen, die David entlasten.«
»Das wird nicht leicht sein.«
»Stell dir einmal vor, dass Davids Version der Geschichte stimmt«, legte Leopold Juricek nahe. »Es klingt doch plausibel. Er kommt in die Wohnung und entdeckt die Leiche. Dann wird er vom Täter, der ihm geöffnet und sich dann versteckt hat, mit etwas niedergeschlagen, was gerade zur Hand ist: mit einem Aschenbecher. Er fällt kurz in Ohnmacht. Das nützt der Mörder, der natürlich Handschuhe trägt, aus, indem er die Tatwaffe in Davids Tasche schmuggelt. Dann setzt er eine SMS an die Tochter ab. Nun kann er verschwinden und in aller Ruhe abwarten, wie sich die Dinge entwickeln. Wenn er Glück hat – und er hat Glück –, hat die Polizei nun einen Hauptverdächtigen, und er ist vorerst aus dem Schneider.«
Juricek steckte den Kaffeelöffel in seinen Mund und leckte ihn genüsslich ab. »Leider unterstützen die Fakten deine Theorie nur wenig«, erinnerte er Leopold.
»Strengt euch ein bisschen an, dann werden eure Ermittlungen beweisen, dass ich recht habe«, konterte sein Freund.
»Wir werden unsere Nachforschungen natürlich in allen Richtungen anstellen«, versicherte Juricek. »Aber die Sache hat einen Haken. Je mehr sich die Indizien gegen David Panozzo verdichten, desto mehr wird es im Interesse der Staatsanwaltschaft liegen, den Fall im Sinne der Anklage abzuschließen. Da bleibt dann nicht mehr viel Zeit und Energie, sich mit eventuellen anderen Möglichkeiten zu befassen.«
»Du bist der Wahrheit verpflichtet«, mahnte Leopold ihn.
Juricek schmatzte genüsslich. »Das ist auch der Grund, warum ich hier bin«, ließ er verlauten.