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Mittwoch, 17. Oktober, Nachmittag und Abend
Herbert Bäcker empfing Leopold, den Freund seines Vaters, herzlich im Schopenhauer, ging dann aber ohne Umschweife auf die aktuelle Situation ein. »Mir ist alles recht, was hilft, ein schlimmes Verbrechen aufzuklären und die Unschuld eines unserer Angestellten zu beweisen«, schärfte er Leopold ein. »Aber wir sind in erster Linie ein Kaffeehaus, und der reibungslose Ablauf aller Vorgänge sowie das Wohlbefinden unserer Gäste stehen im Vordergrund.«
»Ich bin auf alles vorbereitet«, versicherte Leopold. »Ich habe sogar meine Livree samt Mascherl mitgenommen.«
»Das … ist nicht vorgesehen«, bedeutete Bäcker ihm zögernd. »Die Hose und das weiße Hemd kannst du ja tragen, aber Sakko und Mascherl sind bei uns nicht üblich.«
Leopold fiel erst jetzt auf, dass die Oberkellner im Schopenhauer allesamt nur mit weißem Hemd und offenem Kragen herumliefen. Er hatte bei seinem letzten Besuch gar nicht darauf geachtet. »Wieso denn das?«, fragte er überrascht. »Das untergräbt ja die ganze Autorität!«
»Die Leute sollen doch keine Angst vor unserem Personal haben«, erklärte Bäcker. »Wir wollen unseren Gästen gegenüber Frische und Offenheit demonstrieren.«
»Und wo bleibt der Respekt?«, war Leopold zunehmend aus dem Häuschen.
»Respekt zieht heute nicht mehr«, ließ Bäcker verlauten. »Das sind Methoden von gestern. Mein Vater hat auch noch Wert darauf gelegt. Aber die Zeiten haben sich geändert – zumindest, seit ich in unserem Kaffeehaus das Sagen habe. Ich werde dir am Anfang unseren Herrn Oliver zur Seite stellen. An ihn kannst du dich wenden, wenn du Fragen hast. Oliver!«
Auf seinen Ruf kam ein junger, schlanker, schwarzgelockter Ober in betont lässigem Gang herbei. »Das ist Leopold, die Vertretung von David«, unterwies Bäcker ihn. »Du hilfst ihm, wenn es ein Problem gibt, klar?«
»Geht in Ordnung«, antwortete Oliver dienstbeflissen.
Dir werd ich gleich helfen, Bürscherl, dachte Leopold. Dann nahm er aber doch die zum Gruß ausgestreckte Hand. Unsympathisch schien ihm sein neuer Kollege nicht. Es fragte sich nur, wer hier wem etwas beibringen würde. Man würde sehen. Leopold konnte die kleine »Einschulung« immerhin nützen, um in Erfahrung zu bringen, was Oliver über Katja Winkler wusste. Jetzt wollte er erst einmal mit seiner Arbeit beginnen, damit er sich rasch eingewöhnte. Es wurde ja von ihm ein überhöhtes Maß an Freundlichkeit erwartet. Nun denn.
Sobald er die ungewohnte Dienstkleidung angelegt hatte, steuerte er zielstrebig auf einen weißhaarigen Mann mit dicker Hornbrille zu, der eine Zeitung las, dabei immer wieder den Kopf schüttelte und ein zischendes »Tsss« ausstieß. Das schien ihm der ideale Grantler zu sein, um sich in übertriebener Kundenbetreuung zu üben.
»Guten Tag, der Herr! Was darf ich Ihnen denn Gutes bringen?«, redete er ihn deshalb mit einem Lächeln an, das seine gesamte Gesichtsmuskulatur strapazierte.
Der Grantler verzog keine Miene und schaute auch nicht von seiner Zeitung auf. »Eine Melange«, knurrte er.
»Welche Temperatur?«, erkundigte sich Leopold.
Nun riskierte der Grantler doch einen Blick. »Was meinen Sie?«, fragte er irritiert.
»Welche Temperatur wäre dem werten Herrn denn angenehm? Brennheiß, heiß, Körpertemperatur oder lauwarm? Wir bereiten den Kaffee selbstverständlich exakt nach Ihren Wünschen zu.« Bei diesen Worten zog Leopold ein Thermometer hervor, das er extra zu diesem Behufe mitgenommen hatte. »Wenn’s gewünscht wird, auf den Grad genau«, informierte er den Gast.
»Ich möchte eine Melange«, wiederholte der Grantler. »Ganz normal und ohne viel Larifari!«
»Wie soll der Milchschaum sein? Fest oder halbfest? Oder locker mit kleinen Luftblasen? Wie gewohnt in klassischem Weiß?«, ließ Leopold nicht locker.
»Sagen Sie, was soll das?«, empörte sich der Grantler nun. »Ich möchte eine Melange, und wenn Sie schon so daherreden: Wissen Sie, wie?«
»Ich höre«, sagte Leopold in freudiger Erwartung.
»Rasch«, erhob der Grantler genervt seine Stimme und vergrub sein Gesicht wieder hinter der Zeitung.
Leopold verschwand nach diesem ersten missglückten Versuch überbordender Freundlichkeit seufzend hinter der Kaffeemaschine. »Na also«, sagte er dabei leise zu sich. »Wie ich es immer sage: Mit Liebenswürdigkeit kommt man in dem Geschäft nicht weit!«
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»Was war denn das für ein Auftritt?«, erkundigte sich Oliver bei Leopold.
»Ich habe von David gehört, dass es bei euch extra freundlich zugehen muss«, antwortete Leopold achselzuckend.
»Der Chef verlangt zwar, dass wir den Gästen unsere volle Aufmerksamkeit schenken«, erläuterte Oliver. »Aber das ist in unserem Beruf ohnehin selbstverständlich. David hat das vielleicht zu ernst genommen, weil er vollkommen neu in dem Job war. Deshalb auch seine Besuche bei Frau Winkler. Das war etwas übertrieben und unklug. Du weißt ja Bescheid, oder?«
Leopold nickte. »Von euch hat das vorher keiner gemacht? Ihr die Taschen hinaufgetragen?«, wollte er wissen.
»Nein«, stellte Oliver sofort klar. »Du siehst, was bei so etwas herauskommen kann. Fairerweise muss man sagen, dass er der Erste war, den sie darum gebeten hat. Er ist sofort darauf eingestiegen. Da haben wir uns nicht mehr eingemischt.«
»Was war das denn für eine, die Winkler?«, wagte sich Leopold ein Stück weiter vor. »War sie auf junge Männer aus?«
»Schwer zu sagen«, gab sich Oliver bedeckt. »Den Männern hat sie gut gefallen, weil sie auf sich geschaut hat. Dem David vermutlich auch. Aber andererseits wirkte sie hier im Kaffeehaus sehr zurückgezogen. Immer allein an einem Tisch. Dabei war sie einmal eine sehr beliebte Schauspielerin. Na ja, sie hatte einen schlechten Fuß. Vielleicht hat das mitgespielt.«
»Ich kenne David und halte ihn für keinen Mörder«, machte Leopold deutlich. »Deshalb frage ich mich, ob Frau Winkler Kontakte hier im Schopenhauer geknüpft oder jemanden getroffen hat.«
»Nicht, dass es mir aufgefallen wäre«, gab Oliver Auskunft. »Obwohl, etwas war schon komisch. Sie ist meistens sehr abrupt aufgebrochen, hat ihr Achtel Rotwein hastig ausgetrunken und ungeduldig nach der Rechnung verlangt. Wie wenn sich plötzlich etwas ergeben hätte.« Dann stieß er Leopold mit dem Ellenbogen an, um ihn daran zu erinnern, dass er eigentlich zum Arbeiten und nicht zum Plaudern da war. Zielstrebig bewegte sich Leopold deshalb auf einen Mann zu, der soeben zur Tür hereingeschneit war. Er vermeinte ihn erst unlängst gesehen zu haben. Aber wo?
Sofort fiel es ihm wieder ein. Es war auf einem der Fotos gewesen, die ihm Richard Juricek gegeben hatte. Das war Gottfried Winkler, Katjas geschiedener Ehemann.
Sein Gesicht war von einer großen Sonnenbrille halb verdeckt, obwohl Leopold nicht vermutete, dass er sie trug, um trauernde, verweinte Augen zu verbergen. Die schwarzen, strähnigen Haare hatte er glatt zurückgekämmt, auf den Schultern seines Sakkos zeigten sich mehrere Schuppen. »Ein Bier – kalt!«, ordnete er an.
»Wie kalt?«
»Sehr kalt!«
Wiederum eine Bestellung ohne Komplikationen. Vielleicht würde die Arbeit im Schopenhauer doch nicht so mühsam werden, wie Leopold befürchtet hatte. Er beeilte sich, Gottfried Winkler sein Bier zu bringen. »Mein herzliches Beileid«, raunte er ihm zu, während er das Tablett abstellte.
»Was soll diese Bemerkung?«, reagierte Winkler unwirsch.
»Sie entschuldigen schon, aber ich habe Sie gleich erkannt, und das hat mich an das traurige Schicksal Ihrer Ex-Gattin erinnert«, eröffnete Leopold ihm. »Sie hat ja da vorn gewohnt, nur wenige