Die beiden abgestoßenen Stufen, die hölzerne, braun gemaserte Tür, der hohe Verkaufsraum mit den vielen hölzernen und gusseisernen Säulen, all das hatte eine besondere, eindrucksvolle und doch heimelige Ausstrahlung. Die unzähligen Bücher und der andere Krimi-affine Kram auf den Regalbrettern und den Tischen interessierten ihn weniger. Ihn drängte es nach hinten, ins Café.
Andererseits gab es vorne links ebenfalls einen kleinen Tisch mit vier Stühlen, der den Vorteil hatte, dass man von dort aus das Treiben auf Rathaus- und Brunnenstraße im Auge behalten konnte. Warum auch immer. Stahnke zögerte.
»Kann ich Ihnen helfen?«
Er hatte die junge Frau gar nicht kommen hören. Unversehens tauchte sie von rechts in seinem Gesichtsfeld auf, mittelgroß, sehr schlank, mit hinten hochgestecktem, dunkelblond gesträhntem Haar. Eine große, dunkelrandige Brille kontrastierte stark zu ihrer hellen Haut und gab ihr einen intellektuellen Touch. Für eine Buchhändlerin vermutlich Dienstvorschrift, überlegte der Hauptkommissar.
»Ach ja, nee, ich überlege nur … könnte ich hier vorne auch einen Kaffee bekommen?«
»Aber natürlich. Dafür steht dieser Tisch ja hier.« Sie lächelte, ohne eine Spur von Spott in Miene und Ton. »Ich kann gerne für Sie bestellen, ist ja gerade nichts los hier. Was für einen Kaffee möchten Sie denn? Milchkaffee, Cappuccino, Espresso?«
»Ganz normalen Kaffee bitte.« Stahnke angelte nach einer Stuhllehne.
»Tasse oder Becher?« Die Frau zückte Block und Stift.
»Becher.« Himmel, was wollte die wohl als Nächstes wissen? Er war hier doch nicht bei Starbucks!
Die Buchhändlerin aber nickte nur, drehte sich um und ging gemessenen Schrittes nach hinten, Richtung Restaurant.
Stahnkes Blick folgte ihr bis zum Durchgang. Sie war dunkel gekleidet, ihr Top hatte Dreiviertel-Ärmel. Was war das da an ihrem rechten Arm? Ein Tattoo anscheinend, irgendetwas Blaues, sah aus wie ein Kopf. Ein Kopf mit Hörnern. Warum um Himmels willen ließ sich eine junge Frau so etwas in die Haut stechen? In solch milchweiße, zarte Haut noch dazu? Der Hauptkommissar konnte der grassierenden Tätowier-Mode überhaupt nichts abgewinnen. Mode kam, um wieder zu gehen, das war doch ihr Hauptzweck, vielleicht sogar ihr einziger. Was aber machte eine Tätowierte, wenn diese Mode mal out war?
Ach, da gab es ja diesen Schlager. »Bye bye Arschgeweih, ich geb dich zum Lasern frei.« Aua! Aber der Reim war nicht schlecht.
Draußen auf der Straße war immer noch wenig los. Rein geschäftlich schien der Tag noch in der Vorbereitungsphase zu sein. Der Betreiber des Wohntheaters dekorierte Antiquitäten und Second-Hand-Kram auf dem Bürgersteig, der Dönermann schleppte Kartons in seinen Grill im Eckhaus. War das überhaupt der Grill-Betreiber? Stahnke hatte den Mann anders in Erinnerung: stämmiger, dunkler, immer ein bisschen schmierig. Der hier machte einen sehr adretten Eindruck. Na, vielleicht nur ein Lieferant. Anderseits hatte er einen Schlüssel.
»Ihr Kaffee.« Die Buchhändlerin hatte sich wieder so lautlos angeschlichen, dass Stahnke leicht zusammenzuckte. Sie stellte den dampfenden Becher vor ihm ab, drehte den Henkel in Griffrichtung, drapierte Dosenmilch und Folien-Keks übertrieben sorgfältig. »Sonst noch einen Wunsch?«
»Nein danke, alles gut.« Der Hauptkommissar erwiderte ihren Blick, wunderte sich über das viele Weiß rund um die Iris. Ein starrer Blick? Oder ein herausfordernder?
Mit der Andeutung eines Lächelns wandte sich die junge Frau um und verschwand hinter dem Kassentisch hindurch im Büro. Wiederum ohne einen Laut.
Ganz so jung, wie ich zuerst dachte, ist sie wohl nicht, dachte Stahnke, das ein oder andere Fältchen hat sie schon, so rund um die Augen. Wie alt mag sie sein – Ende zwanzig, Anfang dreißig? Oder schon Mitte? Wie auch immer, auf jeden Fall ist sie viel zu jung.
Er stutzte. Zu jung wofür? Was sollte denn solch ein Gedanke? Wo kam der her? Er hatte doch überhaupt keine Absichten, er hatte doch …
Sina. Aha, daher wehte der Wind. Wieder spürte er diese altbekannten Stiche. Und als er den ersten Schluck Kaffee heruntergestürzt hatte, spürte er auch wieder dieses Brennen im Magen. Klar konnte es vom zu heißen Kaffee kommen. Aber das wusste er besser.
Jahrelang hatte er sich diese unkontrollierbaren Eifersuchts-Attacken übel genommen. Musste er sich denn sein Glück mit dieser wunderbaren jungen Frau mutwillig selber vermiesen? Natürlich war es eine Amour fou, eine Beziehung, die aus dem gesellschaftlich akzeptierten Rahmen fiel. Er hasste diese hochgezogenen Augenbrauen angesichts der gut zwanzig Jahre Altersunterschied zwischen ihm und seiner Freundin ebenso sehr wie das fette Lachen seiner Macho-Kollegen und deren anerkennendes Schulterklopfen: »Mensch, Stahnke, du musst ja verborgene Qualitäten haben, dass du so ein junges Blut unter Vertrag halten kannst! Hätte gar nicht gedacht, dass du so ein Hengst bist!« Drecksäcke. Manchmal hätte dieser Hengst am liebsten kräftig ausgekeilt.
Aber andererseits schmeichelte ihm solch klebrige Macho-Anerkennung doch auch, obwohl er es sich nicht eingestehen mochte. Und obwohl die Prämissen dieses Lobes auch überhaupt nicht stimmten. Von wegen erfrischender Brunnen der Jugend, in den er nach Belieben eintauchen konnte! Nicht er war die lenkende Kraft in dieser Beziehung. Weit gefehlt! Für Stahnke war Sina die, von der er lernte, an der er sich orientierte. Um mit ihr Schritt zu halten, musste er sich ständig selber ins Hinterteil treten. Und das tat ihm gut.
Der Jungbrunnen natürlich auch. Und das Eintauchen.
Trotzdem, diese Intervalle von Eifersucht und Misstrauen konnte er einfach nicht unterdrücken. Und egal, gegen wen sie sich richteten – letztlich richteten sie sich doch immer gegen ihn selbst. Weil er deutlich spürte, dass er es war, der hier nicht passte. Der nicht genügte. Da konnte er sich so oft in den Hintern treten, bis der blau anlief, dieses Gefühl bekam er damit nicht weg.
Und solche Gefühle, solche Zweifel färben irgendwann ab, schlagen durch auf die Realität. Verfluchte Dialektik! Selbsterfüllende Prophezeiung nannte man das wohl auch. Oder, blumiger ausdrückt: Zweifel und Misstrauen sind Äxte am Baum der Liebe.
Ich glaub, es hackt, dachte Stahnke. Vielmehr, ich weiß es. Und der da hackt, das bin ich.
Er stürzte den Rest seines Kaffees hinunter. Heiß war der nicht mehr, aber es brannte dennoch.
Wie oft hatte es so gebrannt, wenn er an Sina und ihr freundschaftliches Verhältnis zu ihrem Ex-Freund, dem Journalisten Marian Godehau, gedacht hatte! Dabei hatte Sina diesen Burschen längst weit hinter sich gelassen, fand ihn zwar immer noch unterhaltsam und nett, aber viel zu kindisch. Trotzdem hatte Stahnke sich immer wieder eingebildet, zwischen den beiden etwas wahrzunehmen, das sich zu einem Keil zwischen ihm selbst und ihr entwickeln mochte. Pure Einbildung, gespeist aus dem Schuldbewusstsein Marian gegenüber, dem er seinerzeit die Freundin ausgespannt hatte – was wiederum eine Sichtweise war, mit der er Sina auf gar keinen Fall kommen durfte. »So denken keine Männer, so denken nur Männchen«, würde sie sagen. Und dass sie in Sachen Beziehung immer noch selbst die Entscheidungen träfe.
Oh ja, das traf absolut zu. Hatte er vielleicht davor so große Angst?
Die Tür wurde geöffnet; zwei Paare betraten den Laden. Das eine ging gleich durch nach hinten ins Café, das andere steuerte den Tresen an. Offenbar ging es um vorbestellte Bücher, die schnell gefunden und bezahlt waren. Danach ging auch das zweite Pärchen weiter ins Restaurant.
Stahnke blickte auf die Uhr: schon nach zwölf, die Küche hatte geöffnet. Er musste dringend zu seiner Dienststelle aufbrechen. Die halbstündige Auszeit war bereits vorüber.
Er wollte sich erheben, aber blanke Unlust hielt ihn zurück. Dieser blasierte, arrogante Eickhoff! Musste er sich den wirklich antun? Neue Erkenntnisse waren von einer Unterhaltung mit dem sowieso nicht zu erwarten, jedenfalls nicht, solange er überhaupt nicht wusste, wonach er eigentlich fragen sollte. Auf reine Verdächtigungen und Unterstellungen gegenüber irgendwelchen