»Angepöbelt«, wiederholte Stahnke. »Ebenso wie wen?«
Dahlmann zuckte die Achseln. »Wie mich«, sagte er. »Aber das ist ja nichts Neues. Dass die Eickhoffs und wir von der Altstadt ständig überkreuz sind, das weiß ja nun jeder, der regelmäßig Zeitung liest. Dabei spielt der Kleine nur eine Nebenrolle. So etwa wie der Papagei auf der Schulter von Long John Silver.« Er lachte wieder, diesmal gehässig. Das wirkte ehrlicher.
»Was war denn der Anlass Ihres Wortgefechts?« Der Hauptkommissar ließ nicht locker. »Wann und wo spielte sich das ab?«
Dahlmann seufzte, dann begann er den Vorfall vom vergangenen Abend im Zusammenhang zu schildern, wobei er den kläglichen Verlauf des Einkauf-Events in der Fußgängerzone in den dunkelsten Farben malte. »Kein Wunder, dass bei denen die Nerven blank liegen«, schloss er. »Wenn die sogar schon aufeinander losgehen! Nach außen spucken sie noch große Töne, tatsächlich aber wissen sie langsam nicht mehr, wie sie der Konkurrenz des Internets und der großen Märkte am Stadtrand noch Paroli bieten sollen. Da regiert einfach die Panik.« Der Geschäftsinhaber breitete bedauernd die Arme aus; seine Miene aber ließ Schadenfreude erkennen. »Eickhoff senior steht natürlich besonders unter Erfolgsdruck, weil er ständig Angst hat, von seinem eigenen kleinen Bruder in den Schatten gestellt zu werden. Karl-Joseph Eickhoff, der Reeder, sagt Ihnen das was?«
Stahnke nickte, ohne richtig hingehört zu haben. Er musste an die Worte von Karl-Friedrich Eickhoff denken, die möglichen Motive für den Anschlag auf seinen Sohn betreffend. Tatsächlich schien sich der Senior durch seine rigide Geschäfts- und Verbandspolitik täglich neue Feinde zu machen, nicht zuletzt im eigenen Lager. Aber waren konkurrierende Kaufleute, mochten sie untereinander auch noch so uneinig oder gar verfeindet sein, als neuzeitliche Pistoleros auf dem Motorrad vorstellbar?
Natürlich waren sie das, stellte der Hauptkommissar fest und war selber überrascht.
Unwillig schüttelte sich Stahnke den Gedanken aus dem Kopf. »Was halten Sie von der Idee, dass der Anschlag auf Oliver Eickhoff gar nicht ihm persönlich gegolten hat, sondern seiner Familie? Dass der junge Mann sozusagen stellvertretendes Opfer war?« Jetzt, da er sie aussprach, kam ihm die Theorie absurd vor.
Genauso kam sie bei Dahlmann an. »Das hat Ihnen der Alte selber erzählt, stimmt’s?«, rief er. »Der Spinner! Lässt wirklich keine Gelegenheit aus, sich aufzuspielen und seine Kritiker ins schlechte Licht zu rücken! Selbst wenn sein eigener Sohn dafür den Kopf hinhalten muss.« Er grinste: »Oder vielmehr den Popo. Ist ja echt die Frage, welches bei dem der edlere Körperteil ist.«
Stahnke musste sich beherrschen, um dienstlich ernst zu bleiben. »Sie glauben also nicht an diese These. Aber wer könnte denn sonst einen Grund gehabt haben, derart auf Oliver Eickhoff loszugehen?«
»Wer?« Der Rothaarige kniff die Augen zusammen. »Eine ganze Menge Leute, davon können Sie ausgehen! Der Kleine ist nämlich nicht so lieb und nett, wie er und sein Vater Sie anscheinend glauben machen wollen. Allein schon, was der für einen Umgang hat! Kein Wunder, dass der Christiansen langsam graue Haare kriegt.«
»Sie meinen den Buchhändler da vorne an der T-Kreuzung, mit dem Sie gestern Abend unterwegs waren? Inwiefern ist der denn von Eickhoff juniors Umgang betroffen?«
»Weil, der Christiansen, der vermietet ja auch«, erläuterte Dahlmann. »Die große Wohnung über seinem Laden. Na ja, das Haus ist alt, abends ist es im Restaurant naturgemäß etwas lauter, da kann er sich seine Mieter nicht wirklich aussuchen, verstehen Sie? Deswegen nimmt er gerne Wohngemeinschaften. Aber mit der jetzigen hat er echt ins Klo gegriffen. Ständig Lärm, ständig Randale, und die Polizei ist auch jede zweite Woche da. Eigentlich wollte Christiansen die Leute längst raussetzen, aber da ziehen ja sowieso ständig welche ein und aus, und jedes Mal heißt es, den Ärger hätte immer nur der gemacht, der jetzt weg sei. Tja, und der Christiansen, der hat eben so ein weiches Herz, verstehen Sie? Deswegen geht der ganze Mist auch immer weiter.«
»Und Oliver Eickhoff soll zu dieser WG gehören?« Der Hauptkommissar klang ungläubig.
»Nein, natürlich nicht!« Dahlmann verzog sein Gesicht. »Als ob der im Altbau wohnen würde! Nee, für den hat Papa ganz was Modernes hochziehen lassen, da draußen im Neubaugebiet an der Grenze zwischen Loga und Heisfelde. Aber der Oliver verkehrt mit den Leuten, die oben beim Christiansen wohnen, und ich schätze, das darf man auch wörtlich nehmen, also von wegen verkehren.« Er zwinkerte anzüglich. »Jedenfalls hält er sich alle paar Nächte dort auf, und wenn mal wieder die Remmi-demmi-Feten steigen, dann ist der Junior auf jeden Fall dabei. Und der Leiseste ist er dann bestimmt nicht!«
»Stößt sich also die Hörner ab«, brummte Stahnke. »Weiß sein Vater davon?«
»Es gibt wenig, was der alte Eickhoff hier in Leer nicht weiß«, orakelte der Kaufmann. »Aber manchmal macht er auch einfach die Augen zu.«
Der Hauptkommissar verzog seinen Mund. Es war ja erfreulich, dass dieser Klamottenhöker hier so geschwätzig war, aber Stahnke hatte keine Lust, sich die Sumpfblüten der ewigen Händler-Rivalität zwischen Fußgängerzone und Altstadt als verwertbare Spuren andrehen zu lassen. Dahlmann und Eickhoff senior schienen nichts anderes im Sinn zu haben, als ständig mit dem Finger auf den jeweils anderen zu zeigen, und das gab hier motivtechnisch keinen Sinn, war doch der eine der Vater des Tatopfers und der andere ein Tatzeuge, der wiederum durch seinen Begleiter alibimäßig abgesichert war. Was also sollte das bringen? Zeit, die Aussage unter Dach und Fach zu bringen. Der Kriminalpolizist straffte sich. »Erzählen Sie doch bitte weiter, wie sich die Sache gestern Abend abgespielt hat. Ab dem Moment, als Sie den jungen Eickhoff erkannt hatten.«
»Noch einmal?« Dahlmann stöhnte unwillig auf. »Was das wieder an Zeit kostet!« Sein Blick schweifte durch den Laden, und hätte er auch nur einen Kunden erspäht, so hätte er sich bestimmt auf ihn gestürzt, um dieser lästigen Pflicht zu entgehen. Kunden aber gab es keine, und so fügte sich der Kaufmann seufzend in sein Schicksal.
5.
Auch Stahnke seufzte, sobald er den Laden verlassen hatte, und atmete tief durch. Viel hatte er an diesem Vormittag ja noch nicht zustande bekommen, musste er sich eingestehen, trotzdem fühlte er sich bereits erschöpft. Er wurde eben nicht jünger. ›Wir können das nicht mehr so!‹, pflegte sein Dienststellenleiter Manninga regelmäßig zu mahnen, wenn es wieder einmal besonders stressig zuging. Davon konnte jetzt und hier noch überhaupt keine Rede sein, dennoch hatte der Hauptkommissar das Gefühl, dass sein Vorgesetzter auf Dauer recht behielt.
Das ärgerte ihn und trieb ihm das Blut in die Wangen. Schon war der Anflug von Müdigkeit wieder verflogen. So geht das also, schmunzelte Stahnke und blickte auf die Uhr. Das Gespräch mit Eickhoff senior stand an; wenn der sich an die versprochenen neunzig Minuten hielt, käme der Hauptkommissar gerade zurecht, wenn er sich jetzt auf den Weg in die Polizeiinspektion am Hafenkopf machte. Andererseits hatte sich Eickhoff eine Pufferzeit von weiteren dreißig Minuten ausbedungen. Also konnte Stahnke durchaus vorher noch einen Kaffee trinken gehen. Sollte sein Gesprächspartner früher eintreffen, musste der sich eben gedulden. Das tat ihm bestimmt ganz gut.
Zum Tarax waren es nur ein paar Schritte – auch noch in die richtige Richtung. Lange hatte das alte Taraxacum leer gestanden, nachdem der frühere Besitzer erst pleite gegangen und dann verstorben war. Viele Leeraner hatten diesen Zustand wortreich bedauert, hatte diese Buchhandlung mit angegliedertem Café und Restaurant doch früher als Hort der höheren Kultur in der kleinen Händlerstadt an Ems und Leda gegolten. Doch offensichtlich hatten sich diese vielen Bedaurer nicht häufig genug von der Kultur und ihrem Hort anlocken lassen. Von guten Worten allein aber konnte kein Laden überleben.
Die jetzigen Tarax-Besitzer hatten das alte Konzept in neuem Gewand wieder aufleben lassen. Jetzt stand alles unter dem Motto Krimi, und der Laden hieß denn auch entsprechend Tatort Taraxacum. Diese Tatsache bereitete Stahnke ebenso leichtes Unbehagen wie die Deko von Geschäft und Restaurant, die aus allerhand Uniformmützen und anderen Polizei-Utensilien, Hackebeilen und Thriller-Plakaten bestand. Der Hauptkommissar hielt nichts von Kriminalromanen, dazu nahm er seinen Beruf viel zu ernst. Und außerhalb der