Berit hat mir eine schöne kleine Geschichte aus der Zeit erzählt, als Lilly ein Mädchen von zwölf, dreizehn Jahren war. Ganz unaufgefordert, sollte ich wohl hinzufügen. Es hat sich so ergeben. Wir gingen am Strand entlang, wie wir das oft machen. Da werden so seltsame Dinge angeschwemmt. Nein. So seltsam sind sie wohl nicht. Es sind Fragmente aus den gelebten Leben anderer Menschen. Ein Schuh, halb im Sand begraben. Ein Schöpflöffel. Eine Einkaufstüte mit kyrillischer Schrift. Und eines Tages erzählt Berit mir von dieser Flaschenpost, die sie Lilly zu verschicken half. Im Meer aufgegeben. Den Brief, den Lilly auf Norwegisch und einer Art Englisch geschrieben hat. Hello! I am girl! Und so weiter. Eine Papierrolle, umschlossen von Glas. Wie verletzlich! Diese kleine Mitteilung, die in der Saftflasche steckt, und die bei Flut in den Sund hinaustreibt, zwischen Granit und Quarz, mitten in der Fahrrinne. Ich konnte es mir so gut vorstellen, denn ich hatte es mir als Junge auch vorgestellt. Was sie jetzt erzählte, war das, wovon ich selbst so oft geträumt hatte, wozu ich aber niemals eine Gelegenheit gefunden hatte. Und wenn ich hier unter der Schlummerdecke liege, denke ich: Wie gespannt muss sie gewesen sein, als sie hier im Bett gelegen und an diese Saftflasche gedacht hat, die draußen in Sturm und Regen treibt, oder die mitten auf dem Meer irgendwo in Windstille und Sonnenuntergang herumdümpelt. Unterwegs zu Menschen oder Dingen, über die man nichts wissen kann. Es muss großartig gewesen sein.
»Und mehr als ein Jahr später bekommt sie Antwort«, sagt Berit. »Von einem fünfzehnjährigen Jungen. Stell dir das vor!«
Und ich stelle es mir ziemlich oft vor. Vor allem, weil es so schön ist. Wie oft habe ich wohl über Mädchen in dem Alter gelesen, die für Jungen schwärmen, die einige Jahre älter sind als sie? Sehr oft. Und dann noch ein Däne. Ein Bursche aus Jütland, der unten im Flachland herumwandert und mit den Schuhen den Sand aufwühlt, fünfzehn und unglücklich. Dann eine Saftflasche von unbekannter Marke. Eine Schriftrolle vom Toten Meer. Ein Fragment eines unbekannten Evangeliums. A girl …
Und alles in der Zeit der Unschuld. Darüber haben wir gesprochen, Berit und ich. Wie unschuldig das alles war. Denn wir lesen doch darüber in der Zeitung. Die elektronische Flaschenpost, die heutzutage durch den Kosmos gejagt wird. Die vielen fünfzehn Jahre alten Jungen, die sich als sechzig Jahre alte Onanierer mit Bierbauch und langem Sündenregister entpuppen.
Uns schaudert es.
Ich erzähle Berit nicht, was ich mir hier oben in dem verlassenen Mädchenzimmer so denke. Ich behalte diese Gedanken für mich. Mit Berit spreche ich über das tägliche Leben hier oben, und ab und zu über die Zukunft, von der wir, wie ich glaube, noch viel zu erwarten haben. Wir sind beide nicht den allerleichtesten Weg hierher gegangen, wo wir nun im Halbdunkel dasitzen und Kaffee trinken. Es hat durchaus steile Hänge und Abgründe gegeben. Und nicht wenige.
»Noch Kaffee?«
»Ja, danke.«
Ich hole die Thermoskanne und schenke für sie ein.
»Ellen hatte eine ein wenig seltsame Idee. Ich habe weder Ja noch Nein gesagt.«
»Ja, ich habe mit ihr gesprochen, ich finde, du solltest mitmachen.«
»Du hast mit ihr gesprochen? Wann denn?«
»Wann denn? Spielt das eine Rolle?«
»Natürlich tut es das! Wenn sie mit dir gesprochen hat, ehe sie mich gefragt hat, bedeutet das doch, dass ihr beide Pläne für mein Tun und Lassen schmiedet, ehe ich selbst darin eingeweiht werde.«
»Jetzt übertreib nicht! Sie hat gefragt, ob ich glaubte, dass du vielleicht bereit sein könntest, dich an einem kleinen Gespräch darüber zu beteiligen, wie es war, von außen zu kommen und sich hier auf Vaksøy niederzulassen. Das war alles. Das heißt doch nicht, dass wir Pläne für dich schmieden.«
»Nicht? Und was hat die weise Frau aus Viken geantwortet?«
»Ich habe gesagt, dass ich mir nie im Leben vorstellen kann, dass du da mitmachen würdest. Aber dass sie dich ja fragen könnte.«
Ich stelle fest, dass mir ein leicht ungläubiges Lachen entschlüpft. Jetzt muss ich mich an alle Gespräche aus dem Blauen Zimmer erinnern.
Sie stellt mit einer Bewegung, die mir als unnötig heftig erscheint, ihre Kaffeetasse auf den Tisch. »Jetzt fang bloß nicht damit an!«, sagt sie.
Ganz ohne die Stimme zu heben, erkläre ich ihr, dass ich durchaus nicht vorhabe, mit irgendetwas anzufangen.
»Wir müssen nur ein klein wenig aufräumen. Okay?«
Sie antwortet mit einem Seufzer, der mich eigentlich ziemlich wütend macht, aber das zeige ich nicht. Ich lege eine längere Pause ein, ehe ich weiterrede. Überlege. So muss das gemacht werden. Ja, ich warte so lange, dass sie offenbar glaubt, dass ich den Fall auf sich beruhen lassen will, denn als ich jetzt etwas sage, sehe ich, dass sie zusammenzuckt.
»Wir können das ja von Anfang an durchgehen«, schlage ich vor.
Leise: »Ach, du meine Güte!«
Das Letzte, was ich will, ist, sie zu quälen. Dazu bin ich auch gar nicht veranlagt. Andererseits ist es so, dass ich in dieser Angelegenheit hintergangen werde. Wenn ein Gespräch über mich geführt wird, darüber, wozu ich wohl bereit bin oder nicht, dann verlange ich, darüber informiert zu werden. Am besten im Voraus. Und jetzt, wo sie ins Fettnäpfchen getreten sind, ist es ja wohl das Mindeste, was ich erwarten kann, dass Berit erklärt, was eigentlich geschehen ist. Das ist doch nicht zu viel verlangt. Und das erläutere ich hier auf ruhige und gelassene Weise.
Und jetzt wird sie eine andere. Ihre leicht resignierte Miene verschwindet. Sie lächelt und mustert mich mit dem schwedischen Blick. Den schönen Augen.
»Ist schon gut«, sagt sie. »Ich werde alle Karten auf den Tisch legen.«
Na gut. Jetzt kommt sie mir so. Sie will meinem Ernst mit ihrem Spiel begegnen. Das geschieht nicht zum ersten Mal. Indem sie ihre eigene Rolle übertreibt, will sie mir klarmachen, was sie von meiner Übertreibung hält. Das hat sie irgendwo gelernt.
Also gebe ich Kontra. Ich sage, dass ich rein gar nichts wissen will. Es kann doch eigentlich egal sein.
»Aber nicht so, mein gutester Vågsvikinger. So leicht kommst du mir nicht davon!«
Sie kommt auf mich zu und setzt sich auf meinen Schoß. Tippt mit dem Zeigefinger meine Nasenspitze an.
Für das mit dem Vågsvikinger habe ich eine Schwäche. Und für den Zeigefinger ebenfalls. Andererseits meine ich es ernst. Ich finde es gar nicht gut, wenn hinter meinem Rücken geredet wird.
»Ein kleines Gespräch«, sagte ich. »Ich hatte den Eindruck, dass es eine große Veranstaltung werden soll?«
»Ach, das hattest du also? Aber das ist doch der Anfang. Ich dachte, du hast gesagt, du wolltest wissen, wann ich mit Ellen gesprochen habe?«
»Das ist nicht so wichtig«, sage ich. »Aber war das vielleicht deine Idee, wo du dich so aufregst?«
»Weißt du was? Du bist ganz einfach unmöglich!«
»Na gut. Bringen wir die Sache hinter uns. Auf mich wartet draußen im Schuppen noch eine kleine Aufgabe. Ellen ruft an.«
»Nein. Ich begegne Ellen im Laden. Bei der Gefriertruhe, übrigens. Ich habe soeben eine Packung grüne Erbsen herausgenommen, als ich sie kommen sehe. Das war gestern, also nicht weniger als vierundzwanzig Stunden, ehe sie dich in diesen finsteren Plan eingeweiht hat, deshalb kann ich verstehen, dass du beleidigt bist. Ich hatte dich auch nicht um Erlaubnis gebeten, ehe ich in den Laden gegangen bin, ich weiß auch nicht, warum. Vielleicht war es mir schnurz? Oder du hast vielleicht geschlafen?«
Pause.
»Was