INGVAR AMBJØRNSEN
DEN ORIDONGO HINAUF
ROMAN
AUS DEM NORWEGISCHEN VON GABRIELE HAEFS
EDITION NAUTILUS
Die Originalausgabe des vorliegenden
Buches erschien unter dem Titel
Opp Oridongo, © Cappelen Damm, Oslo 2009
Die Übersetzung aus dem Norwegischen
wurde durch NORLA finanziell unterstützt.
Edition Nautilus Verlag Lutz Schulenburg Schützenstraße 49 a · D-22761 Hamburg
Alle Rechte vorbehalten · © Edition Nautilus 2012
Deutsche Erstausgabe Februar 2012
Umschlaggestaltung: Maja Bechert, Hamburg
Druck und Bindung:
Freiburger Graphische Betriebe
1. Auflage
Print · ISBN 978-3-89401-750-7
E-Book · ISBN 978-3-86438-066-2 (ePub)
ISBN 978-3-86438-067-9 (PDF)
1
Um diese Tageszeit, wenn der Nachmittag zum Abend wird, kann ich die Schiffe der Hurtigrute draußen in der Dunkelheit zwischen Skarven und der Insel vorübergleiten hören. Und ich liege hier in meiner eigenen Dunkelheit, den Kopf unter der Decke und die Augen geschlossen. Hier liege ich und döse vor mich hin und lausche den gewaltigen Schiffsmotoren und dem Wind. Der singt im Draht, der das Haus festhalten soll, wenn wieder ein Orkan wütet. Ein seltsames Stück Musik. Es ist nicht schön, aber es ist stark und beruhigend. Wenn ich die Hand unter der Wärme der Decke hervorstrecke und die kalte Wandtäfelung berühre, spüre ich, wie das Haus leise vibriert. Es scheint unter meinen Fingerspitzen zu leben. Es tut mir gut zu denken, dass das Haus lebt, da soll dieser Einfall so banal und dumm sein, wie er nur will, denn ich habe nicht vor, andere mit solchen Gedanken zu belästigen.
Und ich sehe das Schiff vor mir, wie es jetzt durch den Sund nach Norden weiterfährt, wie es in der Herbstdunkelheit leuchtet, wie die Gesichter sich hinter den Fenstern von Restaurant und Kabinen dem Land zuwenden, jemand schaut in den schwarzen Nachmittag hinaus, und vielleicht erfassen einzelne dieser Augen den Umriss unseres Hauses hier im Inneren der Bucht, vielleicht sogar den Umriss von ihr, die unten im halbdunklen Wohnzimmer steht, die eine Hand auf die Fensterbank gestützt, so steht sie nämlich jeden Tag da, wenn die Hurtigrute auf dem Weg nach Norden vorüberkommt, so steht sie in dem halbdunklen Wohnzimmer und stützt sich mit einer Hand auf die Fensterbank, eine magere Hand zwischen Topfblumen und Kerzen. Das weiß ich, das kann ich klar vor mir sehen, denn oft stehe ich mit ihr zusammen dort, stehe hinter ihr, eine Hand auf ihrer Schulter, oder vielleicht sogar eine Hand auf ihrer Hüfte, so stehen wir da und sehen die vielen Lichter der Hurtigrute langsam in Richtung Ozean verschwinden, ehe sie hinter Nabben dann plötzlich erlöschen.
Ich liege da und schlafe ein und wache auf, stelle die Wirklichkeit auf den Kopf, während Traumbilder sich mit meinen Gedanken verflechten, und wenn das Geräusch der Schiffsmotoren sich in der Ferne verliert, wird das schmale Bett, in dem ich liege, zu einem anderen Bett an einem anderen Ort, zu einer Pritsche, und das Zimmer wird zu einer Kajüte umgeträumt, ehe das Geräusch der Motoren wieder durch meine Gehörgänge pocht, ich fahre den Oridongo hinauf, den düsteren Strom hinauf, und es ist so heiß und feucht und hämmernd einsam, so erfüllt von Krankheit und Sehnsucht, und wenn die Motoren ausgeschaltet werden, kann ich daliegen, die Hände vors Gesicht geschlagen oder zwischen die Oberschenkel geschoben, und dem Geplapper der Vögel des Dschungels lauschen, oder Lachen und Weinen aus den anderen Kajüten und von Deck, laufenden Füßen, dem Klang von Trommeln, weit, weit weg, ich kann einfach ganz still daliegen, und Sekunden, Minuten und Stunden zerbrechen.
Auf diese Weise bekomme ich eine gute Beziehung zur Zeit.
Zur geträumten und zu der, die in der Welt der Wachen herrscht.
Später gehe ich in die Küche hinunter und setze Kaffeewasser auf. Schneide zwei Stücke vom Kringel ab und bringe sie auf einer Untertasse ins Wohnzimmer.
Berit sitzt im Schaukelstuhl, das Kinn auf der Brust. Ihr Tuch ist heruntergeglitten, es liegt zerknüllt auf dem Boden. Sie behauptet, niemals Mittagsschlaf zu halten, aber hier haben wir sie in ihrer ganzen bewusstlosen Pracht! Wenn ich mich nur erinnern könnte, wo ich die IXUS hingelegt habe, dann würde sie es selbst sehen. Aber es ist ja auch so, dass sie durchaus auf die Idee gekommen sein könnte, das Zeitliche zu segnen. Statt also nach dem Fotoapparat zu suchen, stelle ich die Untertasse auf den Tisch neben der Seekiste und beuge mich über sie. Die Halsschlagader pocht … ich hebe das Tuch vom Boden auf und lege es vorsichtig um ihre Schultern.
Und dann wacht sie auf, natürlich.
Im Licht der vielen Kerzen sehe ich, wie sie das rechte Auge öffnet, dann das linke, während sie mich zugleich anlächelt, und ich kann es nicht erklären, ich weiß nicht, warum, aber ich verbinde diesen Blick und dieses Lächeln immer mit etwas »Schwedischem«, ihr ganzes Gesicht hat gleichsam etwas Schwedisches, wenn sie so dasitzt und listig und ein wenig geheimnisvoll aussieht. Die grauen, lebhaften Augen. Das schmale Gesicht. Die geschwungenen Lippen.
Und natürlich hat sie nicht geschlafen. Sie schläft nachts, kann sie mitteilen. Nicht tagsüber.
Ich bin es, der tagsüber schläft.
Sie hat mich durch die Wohnzimmerdecke schnarchen hören.
Ob ich geträumt habe?
Offenbar habe ich auch ein wenig gewimmert.
Darauf antworte ich weniger als nichts. Ich gehe in die Küche und gebe Kaffee in die Kanne. Vier Maße. Nicht mehr und nicht weniger.
Ich kann hören, wie sie aufsteht und durch das Wohnzimmer geht. Ein wenig später, wie sie sich am CD-Gerät zu schaffen macht, ehe sich Miles Davis’ »In a Silent Way« weich über das Zimmer legt.
Dann sitzen wir im Halbdunkel mit unseren Kaffeetassen da und lauschen dieser Musik, die es noch vor wenigen Jahren in meiner Welt nicht gegeben hat, diesen fremdartigen Tonfolgen, und den Musikern, die sie in mein Leben eingebracht hat, Miles Davis, Wayne Shorter, Herbie Hancock und die vielen anderen, und als das Stück Kringel verzehrt ist, schiebe ich mir einen Priem ein, eine Prise, sie liegt salzig und scharf unter meiner Oberlippe.
Wir reden nicht viel. Wir haben einander schon so viel gesagt. Außerdem hat sie nach dem, was geschehen ist, eine Art Schüchternheit entwickelt, sie hat sich ein behutsames Nuscheln zugelegt, das S ist ein wenig unklar, es spielt ein bisschen mit C und H, und es ist wohl auch so, dass die Zeit der langen verwickelten Sätze unwiderruflich vorüber ist. Das macht ihr natürlich zu schaffen, und bisher hat sie kein besonderes Interesse an den von mir entwickelten Ausspracheübungen an den Tag gelegt – Sara Selmers siebter Einsatz als serbische Sachensucherin –, aber jetzt ist es nun einmal so, dass Gott der Herr dafür gesorgt hat, dass sie mich hat und ich sie. Das ist groß, und deshalb gibt es nicht sehr viel darüber zu sagen. Alles liegt ein wenig jenseits der Worte.
So zu sitzen. Mit Lutschtabak und Kaffee. In einem Zimmer mit einer Frau. Zum Gott weiß wievielten Mal geht mir auf, wie gemütlich dieses Wohnzimmer ist, vor allem um diese Tageszeit, und nachts, ja, die ganze Zeit, bis im Osten das erste Tageslicht zu sehen ist. In all diesen Stunden, vom Nachmittag bis zum Morgengrauen, ist dieses Zimmer das Herz des Hauses. Ja, so denke ich. Dass das Wohnzimmer das Herz des Hauses ist. Tagsüber sitze ich in der Küche, vom Frühstück an und in jedem müßigen Augenblick. Sitze da