Gegenverkehr. Ein Auto. Ich höre es, ehe ich es sehe, denn hier oben, westlich von Skurberg, ist die Straße kurvenreich, sie führt zwischen tiefen Senken in der Landschaft dahin, rasch fahre ich zur Seite, ich lege das Rad flach auf den Boden und steige halbwegs in den Straßengraben. Gehe in die Hocke, als ich die beweglichen Lichter sehe, es ist nicht nur ein Auto, es sind zwei, die Fahrer fahren wie die Schweine, so, wie die hier oben Geborenen das eben machen, die die Wege auf der Insel so gut kennen wie ihre eigene Westentasche, sie fegen an mir vorbei und verschwinden mit Rallyegebrüll in der Nacht.
Was mich dazu inspiriert, ebenfalls schneller zu werden, die Kurven hinunter zum Lovatn zu genießen, die Zentrifugalkraft auszukosten, die mich zu Felswänden und Gräben zieht und lockt, dieses gefährliche Saugen, das im Grunde gar nicht so gefährlich ist, da ich eine innere Karte des Straßennetzes der Insel besitze, nach den Hunderten von Stunden auf Drei- und Zweirad bei Licht und Dunkelheit, wenn auch nicht so gut wie die, die auf diesen Straßen unterwegs gewesen sind, seit sie alt genug dazu waren, also mit sieben Jahren oder schon früher.
Trotzdem wäre es fast schiefgegangen. Es geht nicht schief, aber später werde ich denken, dass es um ein Haar schiefgegangen wäre, an diesem Abend an den Hängen zum Lovatn, denn als ich wie ein Geschoss um eine Kurve nach rechts jage, werde ich von einem blauweißen Licht geblendet, das hier absolut nichts zu suchen hat, und als ich auf der Rückbremse stehe, merke ich, dass meine Räder in etwas Feuchtem rutschen, das hier ebenfalls nichts zu suchen hat, es hat schließlich nicht geregnet. Mein Rad gerät ins Schlingern, es tanzt hin und her, ehe ich es endlich wieder unter Kontrolle habe und die Füße auf den Asphalt setze, dass das Blut nur so spritzt.
Aber das hier ist zum Glück keine Familie mit vier Kindern auf dem Rückweg von einem Besuch bei der Oma. Es ist ein Kronhirsch mit geplatztem Bauch und gebrochenem Geweih. Es dampft vom Gedärm, das wie eine Wurstdolde im Blutgeschmiere liegt. Das scharfe Licht stammt von einer Laterne am Straßenrand und von zwei Wagen, die achtlos mitten auf der Fahrbahn halten. Die Windschutzscheibe des einen ist zersplittert, die des anderen ist unversehrt, wenn ich das richtig sehen kann, es ist der Dienstwagen des Lensmanns, Tharald Reine. Der zum Glück nicht anwesend ist, denke ich, denn jetzt sehe ich seine Assistentin Jenny Lydersen am Rand des Lichtfeldes stehen und mit einem in eine Wolldecke gewickelten alten Mann sprechen. Also hat sie heute Nacht Dienst. Sie scheint total in ihre Aufgabe vertieft zu sein. Tröstdienst. Schocklinderung. Mit ein wenig Glück…
Dann ist die Stimme von Tharald Reine da. Dicht bei meinem linken Ohr. Ruhig. Flüsternd, wie ein indianischer Gott, der in Menschengestalt herabgestiegen ist.
»Trainierst du für die Tour de France, Vågsvik? Allein? In der Dunkelheit? Ohne auch nur die kleinste Lampe?«
Ich gebe keine Antwort. Ich betrachte Jenny Lydersens uniformiertes Hinterteil. Die runden Kurven unter dem synthetischen Stoff. Ich schäme mich. Ich denke an Berit, die zu Hause sitzt und sich mit ihren Angelegenheiten beschäftigt. Die inzwischen sicher schon auf mich wartet. Sie, der ich alles schulde.
Aber dann merke ich, dass ich zu zittern beginne. Das liegt am Blutgeruch.
»Komm her!«
Tharald packt meinen Arm und führt mein Fahrrad und mich aus dem Lichtfeld. Weg von der Schweinerei auf dem Asphalt.
»Was ist denn passiert?«, höre ich mich fragen. Es klingt einfach idiotisch.
Er sieht mich mit zwei großen braunen Augen an. Ich nehme den Geruch von Tabak und Rasierwasser wahr. »Was sollen wir eigentlich mit dir machen, Vågsvik? Hast du einen Vorschlag? Sollen wir dir das Fahrrad wegnehmen?«
Wieder schweige ich. Ich erinnere mich an unsere ersten Begegnungen. Wie sehr ich mich gefürchtet hatte. Er hat diese seltsame flüsternde Art zu sprechen, dieser Tharald. Wie einer dieser psychotischen Sheriffs, über die man in Stephen Kings Büchern lesen kann. So einer, von dem du langsam begreifst, dass er restlos verrückt ist, trotz des blendenden Lächelns, mit dem er irgendwo weit draußen in der Wüste von Nevada dein Auto anhält und deinen Führerschein sehen will. Und bald steckst du fest in einem hitzeflirrenden Albtraum.
Aber so ist Tharald nicht. Tharald ist ein milder Mann. Zurechnungsfähig und verständnisvoll. Jetzt lässt er mich zum Beispiel verstehen, dass er enttäuscht von mir ist. Denn ist es nicht so, dass wir schon zweimal über das Fahren im Dunkeln ohne Licht gesprochen haben? Doch. So ist das.
Wie zu einem kleinen Jungen.
»Was wird aus dem Tier?«, frage ich ausweichend.
Er bückt sich und drückt den Daumen auf den Dynamo. Hebt den Reifen. »Tritt zu.«
Das tue ich. Das Licht der Lampe flackert ein wenig. Unsicher. Hinter uns fährt der Krankenwagen vor. Autotüren werden geöffnet. Geschlossen.
»Kannst du zu Berit nach Hause strampeln oder muss Jenny dich fahren? Zeig mal deine Hände!«
Die zittern ein wenig, aber so schlimm ist das nicht, unter diesen Umständen. Ich bin ein Junge aus der Stadt. Ich bin nicht ans Schlachten gewöhnt.
»Ich habe keine Zeit für dich«, sagt er. »Das ist schrecklich traurig. Was sagst du? Soll Jenny dich nach Hause fahren?«
Was soll ich denn sagen? Etwas in mir, sehr viel sogar, möchte ja gern willenlos von Jenny Lydersen nach Hause gefahren werden. Möchte dort neben ihr auf der Vorderbank sitzen und die Straße auf sich zukommen sehen, während der Polizeifunk knistert. Will ihre schmale Hand auf der Gangschaltung sehen. Ihr Profil im halbdunklen Wagen. Aber die Vorstellung, in einem Streifenwagen nach Hause zu kommen, und sei es die lokale Variante … und mit ihr. Mit Jenny. Berit würde mich wie ein offenes Buch mit Großschrift für Sehbehinderte lesen können.
Deshalb lehne ich das Angebot ab. Frage stattdessen, ob ich irgendwie behilflich sein kann.
Das kann ich nicht.
Ich soll ganz einfach mit brennendem Fahrradlicht zu Berit nach Hause fahren. Sonst…
Nach zwei Kilometern tritt eine späte Reaktion ein. Das Bild des toten Tieres macht mir zu schaffen. Die verdrehten Augen. Das heraushängende Gedärm. Der Blutgeruch.
Halte am Straßenrand an und kotze ein wenig.
5
Ich höre das behutsame Klappern der Tastatur, sowie ich die Diele betrete. Sehe ihren schmalen Rücken im Arbeitszimmer, als ich Magnes Jacke aufhänge. So wie er sie zahllose Male nach irgendeinem Arbeitseinsatz gesehen haben muss. Der Rücken der Strickjacke im blauen Licht des Computerbildschirms. Die grau melierten Haare, die im Rücken zu einem achtlosen Knoten gesammelt sind. Das enge Zimmer, eigentlich ist es nur eine Art geräumiger Verschlag mit Regalen voller Ordner und Stapeln von Zeitungen und Papieren. Über dem Schreibtisch hängen Zeichnungen, die Lilly als Kind angefertigt hat. Sonne und Berge. Meer. Menschen mit großen Köpfen und winzigen Beinchen.
»Wo hast du denn so lange gesteckt?« Sie redet mit mir, ohne mich anzusehen.
Ich gebe keine Antwort. Gehe stattdessen in die Küche und gieße einen Schluck Kaffee in meine Tasse. Ich ziehe es vor, angesehen zu werden, wenn ich angesprochen werde.
»Komm mal her, dann zeig ich dir etwas!«
Ich will nichts gezeigt bekommen. Meine Zeit im Internet ist zu Ende. Das ist in Ordnung so. Aber dann will ich auch nichts gezeigt bekommen, weder von ihr noch von anderen. Entweder freie Suche oder nichts.
Dann steht sie in der Tür. »Sei doch nicht so kindisch! Wir haben doch abgemacht, dass wir zusammen ins Netz gehen können!«
Was hatte ich denn für eine Wahl? Ich kann noch immer Arne Svendsen wiehern hören, als er sich über den Apparat beugt und alle Viren tilgt, für die Berit und er mich verantwortlich machen. »Himmel, du hast ja wirklich eine richtige Runde gedreht, Ulf! Reg dich ab! Ich bin ja auch nicht besser. Aber eine brauchbare Faustregel ist, allem aus dem Weg zu gehen, das sich als gratis ausgibt. Im Netz ist nichts gratis. Jedenfalls nicht in dieser Branche.«
Was denn für eine