Das Licht der Frauen. Żanna Słoniowska. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Żanna Słoniowska
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783311700036
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das Mosaik zu putzen. Er hatte einen Stab, mit dem er auch die unzugänglichsten Partien erreichte. Ich weiß, dass Luba ihn dieses Mal durch den Spion beobachtete.

      Ich stand auf der Türschwelle, als er die weißen und lila Wolken und die Berggipfel scheuerte. Ich setzte mich auf die Stufen, als die Seifenströme mit dem Blau des Sees zusammenflossen. Ich trat ans Fensterbrett, als sich herausstellte, dass die schrägen Dächer der auf dem Berghang verteilten Hütten einen hellgelben Ton hatten und keineswegs einen smaragden, wie ich immer gedacht hatte. Ich hielt den Eimer, als seine langen Finger den alten Schmutz zwischen den Wurzeln des braunen Baumes entfernten. Sie waren gleich groß, er und die gläserne Eiche, sie rangen miteinander wie zwei Kolosse, kämpften darum, wer wem mehr von dem Sonnenlicht nahm, das überraschend das ganze Treppenhaus durchflutete, und mir kam der Gedanke, dass in diesen Hauseingang eine kleine, aber wohlklingende Orgel passen würde. Die farblosen Gläser gegenüber von Lubas Tür reinigte ich selbst und versuchte zu verheimlichen, dass ich in meinem Leben noch kein einziges Fenster geputzt hatte.

      »Was empfinden wohl die Leute, die Michelangelos Pietà abstauben?«, fragte ich ihn später, als er zu einer Tasse Tee hereingekommen war. Aba war nicht zu Hause, und Urgroßmutter hatte sich zurückgezogen.

      »Ich war lange nicht mehr hier, nichts hat sich verändert«, sagte er zusammenhanglos.

      Sein Haar, das ihm sanft auf die Schultern fiel, schimmerte grau. Im linken Ohr trug er einen winzigen Ring – eine unglaubliche Extravaganz für damalige Zeiten.

      »Mir ist so, als hätte jemand die Windschutzscheibe des Autos gewaschen, mit dem ich fahre.«

      »Und mir, als hätte jemand die Zeit zurückgedreht«, sagte er lächelnd, während er in Mamas Schallplattensammlung stöberte. »Die meisten dieser Platten habe ich vor langer Zeit selbst hierhergebracht.«

      Bald darauf gingen wir ins Treppenhaus zurück, um die wiedergewonnenen Farben zu genießen.

      »Ich habe überall gesucht, in Lemberg und im Ausland, aber dieses Mosaik ist einmalig. Man findet ab und zu kleinere Glasmalereifenster, aber keine elf Meter hohe Aussparung in der Fassade. Dieses Haus ist an die Malerei angepasst worden, nicht umgekehrt.«

      Mich schauderte. Ich hatte schon immer etwas über das Mosaik erfahren wollen.

      »Was die Farben angeht«, fuhr er fort, »habe ich zweiundsiebzig zählen können. Im Mittelalter verwendete man zehn. Das hier ist der reinste Impressionismus. Leider weiß niemand, wer es gestaltet hat.« Er hob die Stimme etwas, weil ich auf dem Treppenabsatz über ihm stand. »In den Krakauer Werkstätten der Żeleńskis, wo vor dem Krieg die meisten Lemberger Glasmalereien gefertigt wurden, weiß man nichts darüber.

      Erde, Wasser, Himmel – das Bild entwickelt sich thematisch von unten nach oben. Der unterste Teil, die Unterwelt, fehlt – niemand weiß, was damit passiert ist. Dieses Mosaik ist eine Allegorie für den schwierigen Weg des Lebens. Es begleitet jeden, der die gewundene Treppe hinauf- oder hinuntersteigt.«

      »Wo kann ich Ihre Vorlesungen hören?«, fragte ich, doch er antwortete nicht. Er nahm seinen Lappen und den Eimer und ging, ohne sich zu verabschieden. Ich kehrte in die Wohnung zurück und notierte alles, was er gesagt hatte.

       Aida

      Später, als schon viel zwischen uns passiert war, gab Mikolaj meinen Bitten nach und erzählte mir von seinem ersten Abend mit Mama. Nicht vom ersten Mal, als er sie gesehen hatte, sondern von dem Tag, an dem er verstand, dass er sie liebte. Das war im ersten Frühling des Jahres 1986, bei der Aida, als während der Vorstellung ein Mensch im Zuschauerraum starb.

      Für Mikolaj war es nur ein weiterer Abend, an dem er nach der Arbeit unter einem Vorwand ins Theater gegangen war. Mit einer alten Ledertasche in der Hand, wenige Minuten bevor der Vorhang aufging, betrat er den bis auf den letzten Platz besetzten Saal, küsste unterwegs Nilowna, der betagten Kartenkontrolleurin im blauen Anzug, die Hand. Ihre hohe Frisur und ihr edles Profil signalisierten, dass nun rasch die Sänfte mit der schäbigen Sphinx auf die Bühne getragen würde. Mikolaj erspähte einen Platz in der dritten Reihe. Der besagte Mann saß in der zweiten.

      An jenem Abend gestand Mikolaj sich zum ersten Mal ein, dass Mariannas Stimme eine besondere Wirkung auf ihn hatte. Sie schien in seinem Innern eine Tür zu öffnen, deren Existenz er lange schon vergessen hatte. Sie führte in die Karpaten, nach Hrebenne, in das Heimatdorf seiner Mutter. Ein Hirte in Gummistiefeln, Milch direkt von der Kuh und vor allem die Schaukel, zu groß für den Knirps, der er damals war. Wenn er sie ganz hoch schwingen ließ, bis über die Berge, verschwanden Zeit und Gedanken. Stattdessen wurde das Bewusstsein freigesetzt, dass er existierte – die reine ontologische Essenz, die er weder jetzt noch damals benennen konnte. Als Erwachsener fühlte er es wieder, sobald er Mariannas Mezzosopran hörte. Und als die ersten Töne der Aida erklangen, sah er vor seinem inneren Auge die ersehnte, ferne Wirklichkeit, während die organischen Augen aus der Perspektive des Fachmanns die Tatsachen zur Kenntnis nahmen: die Unzulänglichkeit des altmodischen Bühnenbildes, die anachronistischen Kostüme und besonders die Hässlichkeit von Amneris’ Kleid. Er wusste, dass die kommunistische Partei für diesen schmutzig grünen Ton verantwortlich war.

      Sobald die Solisten verstummten und der Chor auftrat, stellte Mikolaj sich einen Fluss voller Fische vor. Groß und klein, bewegten sie sich mit wechselnder Geschwindigkeit in unterschiedlichen Tiefen. Die an der Oberfläche wurden von der Sonne beleuchtet, das waren die Soprane. Darunter wanden sich größere und dunklere, wie Schleifen – die Altstimmen. Den Grund des Gewässers bedeckten schwere, langsame Fische mit langen Barthaaren, die sich kaum vom sandigen Schlamm abhoben – die Bässe. Die Tenöre waren nicht wahrnehmbar. Während er auf Amneris’ nächsten Auftritt wartete, rief sich Mikolaj den Inhalt seiner Tasche in Erinnerung. Dort war eine Flasche trockener Tokajer versteckt, die er vor der Vorstellung geschenkt bekommen hatte.

      Gegen Ende des zweiten Aktes, als der Pharao Radamès die Hand seiner Tochter versprach und Amneris den Augenblick des Triumphes auskostete, geschah etwas Unerwartetes. Der Kopf direkt vor Mikolaj, den er vorher nicht beachtet hatte, weil er nicht über die anderen hinausragte, schwankte erst nach rechts, dann nach links und sank dann nach unten. Die Frauen, die neben ihm saßen, beugten sich über den Mann. Die eine kreischte:

      »Einen Arzt!«

      Mikolaj stürzte zu Nilowna, die das Licht im Saal anmachte. Mariannas Stimme zitterte, gab zwei falsche Töne von sich und verstummte. Das Orchester spielte einen Augenblick weiter, als wäre nichts gewesen, dann erstarb es auch. Im Publikum meldete sich ein Arzt. Nach einer kurzen Untersuchung bat er Mikolaj, ihm zu helfen, den Mann auf den Flur zu tragen. Siemiradzkis Vorhang rauschte zur Hälfte nach unten. Ein Raunen ging durch den Saal:

      »Aortenaneurysma geplatzt.«

      Im schwach erleuchteten Foyer fand Mikolaj ein Telefon, wählte die Notrufnummer 03 und rief einen Rettungswagen. Der langsam erstarrende Körper im schlecht sitzenden Anzug lag neben der Paradetreppe, Nilowna wachte über ihn und verscheuchte die Gaffer. Mikolaj konnte den Blick nicht von der Hornbrille wenden, die an einer Seite mit einer Kette befestigt war. Sie hing quer über dem Gesicht mit den geschlossenen Augen. Es war klar, dass der Besitzer sie nie wieder brauchen würde.

      Der Arzt und er gingen nach draußen, keiner von ihnen zog einen Mantel an, beide griffen nach Zigaretten und Streichhölzern. Es nieselte, unter den Kastanien zitterten die Lichter der eleganten Laternen. Es war keine Menschenseele unterwegs.

      »Sollte man ihn nicht zudecken?«

      Der Arzt, ein schlanker Mann mit grauem Schnurrbart, winkte ab.

      »So schnell würde ich auch gern sterben – eins, zwei, drei, vorbei!«, gestand er seufzend.

      »Er war noch nicht alt«, stellte Mikolaj fest.

      »Sechsundfünfzig«, erwiderte der Arzt und zeigte den Ausweis des Verstorbenen. »Zum Glück hatte er ihn bei sich.«

      Achtundzwanzig plus achtundzwanzig sind sechsundfünfzig – ich bin genau in der Mitte des Lebens, dachte Mikolaj und blätterte in Andrej Andrejewitsch Fjetisows Pass. Diese