Das Licht der Frauen. Żanna Słoniowska. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Żanna Słoniowska
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783311700036
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war in Leningrad gewesen, wo Aba und Urgroßmutter vor dem Krieg gelebt hatten. Kein Wunder, dass ich schon früh Angst vor unerwartetem Klingeln an der Tür hatte.

      Urgroßmutter prüfte nun immer zuerst, ob die äußere, dunkel gestrichene Tür richtig geschlossen war, dann drehte sie den Schlüssel zweimal im Schloss, hängte die massive Metallkette ein und besiegelte dies mit der anderen, weißen Tür, die sie ebenfalls, aber mit einem anderen Schlüssel verschloss. Diese Konstruktion ließ sich von außen nicht öffnen, worüber Mama sich ärgerte, weil sie gern spät nach Hause kam und dann entweder das ganze Haus wecken oder zulassen musste, dass Urgroßmutter stundenlang aufblieb und auf ihre Rückkehr wartete.

      Jede von uns hatte einen eigenen Satz Schlüssel: Der lange und dünne sang im Falsett und öffnete die dunkle Tür, der kurze mit der untypisch runden Endung seufzte im Bass und war für die Haustür unten, der moderne flache Schlüssel passte in den Briefkasten und war schlichtweg unfähig, einen Laut hervorzubringen. Den Schlüssel zur weißen Tür besaß nur Urgroßmutter, und niemand wusste, wo sie ihn tagsüber versteckte.

      Diese Türen waren für mich eine furchtbare Qual. Zweifach verschlossen und verriegelt, verstärkten sie mein Gefühl der Unsicherheit noch. Als wäre ich in einer belagerten Festung, und wenn ich sie nur einfach abschlösse, würden die Samen der Gefahr gesät werden und wir dem Eindringen von Fremden ausgesetzt sein, in deren Macht es stand, unsere Welt zu vernichten.

      Die äußere, dunkle Tür war leicht. Ich konnte sie schwungvoll zuknallen, um meinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen – wenn ich sauer auf Aba war, weil sie mich zwang, mich wärmer anzuziehen, bevor ich das Haus verließ. Die dunkle Tür enthielt ein »Auge« – einen runden Spion aus gewöhnlichem Glas, der von innen mit einem Stück abgewetzter Pappe abgedeckt wurde. Auch darin witterte Urgroßmutter Gefahr: Erstens merkte der Mensch auf der anderen Seite, wenn der Pappvorhang angehoben wurde, dass er beobachtet wurde, und erfuhr so, dass jemand zu Hause war. Und zweitens hatte er die Möglichkeit, wie Urgroßmutter meinte, durch den Spion anzugreifen.

      »Mach erst nur einen winzigen Spalt auf, um dich zu vergewissern, ob es ein Fremder ist oder einer von uns«, brachte sie mir bei. »Ein Fremder steckt einen Metallstab hindurch und sticht dir das Auge aus.«

      Der Fremde war immer ein Mann.

      Wenn jemand an unserer Gegensprechanlage klingelte, galt es, auf den Balkon zu laufen und nachzuschauen, wer da vor der Haustür stand, und wenn es ein Unbekannter war, zu rufen:

      »Zum wem?!«

      Das diente der Einschüchterung: Die Person unten wusste nicht, woher die Stimme kam, und suchte verwundert mit der Miene eines Blinden nach dem Fragesteller. Einen Stock höher zu sein verschaffte uns einen Vorteil, ermöglichte uns, die Attacke abzuwehren:

      »So jemand wohnt hier nicht!«

      Irrtümer kamen häufig vor und beunruhigten Aba und Urgroßmutter sehr. Angenommen, da kam ein Herr, der einen gewissen Pawel Iwanowitsch Pietrow suchte. Nichts Außergewöhnliches, aber man hörte sofort die Anspannung in ihren Stimmen. Lange überlegten sie, wer der Fremde sein und was das alles verheißen könnte – nichts Gutes, natürlich.

      Wir wohnten im Stadtzentrum, und nicht selten begann jemand, mitten in der Nacht an unsere Tür zu klopfen. Die unerwartete Störung, wenn wir alle schon im Bett waren, donnerte wie die Engelstrompeten vor dem Jüngsten Gericht, trennte das weiche, häusliche Ebengerade von dem gewalttätigen Jetzt. Das konnten sie sein, und sie besaßen absolute Macht über die Menschen und durften alles: entführen, töten, foltern. Die Knechte der Finsternis waren zwangsläufig schwarz gekleidet.

      Die nächtliche weiße Tür war trist und von Melancholie durchdrungen. Sie hing schwer in den Scharnieren, gab einen dumpfen Laut von sich, hatte keinen Spion, und der lange Schlüssel ließ sich nur mit Mühe im Schloss drehen. Wenn ich nachts aufstand und sah, dass die weiße Tür verschlossen war, erfassten mich Hoffnungslosigkeit und Klaustrophobie. Ihre einförmige Fläche ließ mich an das russische Wort глухомань denken, »Einöde«. Die weiße Tür enthielt das weite, grenzenlose Sibirien, die langen Etappen der Zwangsarbeit, endlose weiße Ebenen, das Klicken der Handschellen.

      Wie schon gesagt, zwischen der dunklen und der hellen Tür war noch eine Kette. Tagsüber half sie beim Lüften unserer erbärmlichen fensterlosen Küche. Dank der Kette gab es einen Spalt, der Laute und Luft, nicht aber Menschen durchließ: die perfekte Illustration dieses Schwebezustands, der beunruhigenden Existenz hier und zugleich dort. Ich suchte nach Gelegenheiten, diese Ungewissheit zu beenden, öffnete zum Beispiel die Tür sperrangelweit, angeblich, um die Küche gründlich zu lüften, oder ich schloss sie, unter dem Vorwand, dass mir zu kalt sei. Welche Lust lag in diesem eigenmächtigen Öffnen oder Schließen der Tür, welche süße Illusion von Macht! Wenn ich sie öffnete, zeigte der im Flur hängende Spiegel die Glasmalerei im Treppenhaus, und die Küche begann, statt nach gekochten Mohrrüben nach Wald zu duften, während nach dem Schließen für einen Augenblick der kindliche Glaube zurückkehrte, im Haus wären wir sicher.

      Urgroßmutter traute der Kette nicht. War sie zwischen Tür und Außenwelt gespannt, sagte sie, wir sollten horchen, ob da nicht jemand komme und sie mit einer Metallzange zerschneiden wolle.

      Und tatsächlich waren bisweilen rasche Schritte auf der Treppe zu hören und jemand erschien auf der anderen Seite. Zwei wendige Finger glitten durch den Spalt und tasteten in allen Richtungen nach dem eingehängten Ende der Kette, einer reckte sich, um es zu fassen zu bekommen, während ich nur zusah, statt die Hand auszustrecken und von innen zu helfen. Und wenn dann das Gezerre begann und die Finger mit dem Metall kämpften, begann ich vor Aufregung auf der Stelle zu tanzen, bis es zur Auflösung kam: Die Finger lösten die Metallfessel, besiegt schlug die Kette ans Holz, die Tür öffnete sich weit und herein schritt eine Göttin – luftige, laute und lebhafte Mama.

      Die Rituale beim Schließen der Türen wurden jahrelang unverändert vollführt, aber je heftiger es in allen Fugen der Sowjetunion krachte, desto mehr Herzblut legte Urgroßmutter hinein. Sie hat es nie laut gesagt, aber ich kann mir denken, dass sie keine Anhängerin des Sowjetsystems war, allerdings auch nicht mit denen sympathisierte, die es stürzen wollten. Höchstwahrscheinlich gehörte sie zu den Menschen, die das Gesicht des Systems, in dem sie zu leben haben, erst dann erkennen, wenn es in ihr eigenes Fenster blickt. Was sie im Jahre 1937 gesehen hatte, hat sie für immer geprägt. Je öfter also die Menschen in Lemberg auf die Straße gingen, je lauter sie Dinge aussprachen, die zuvor von Schweigen umhüllt waren, desto eifriger prüfte sie abends, ob unsere Wohnungstüren fest verschlossen waren.

      Als Mama ungefähr ein Jahr vor ihrem Tod unerwartet vom Russischen zum Ukrainischen wechselte, wurde die Zeremonie des Abschließens um ein neues Element erweitert. Nach der Beendigung des gewöhnlichen Rituals lehnte Urgroßmutter einen Weidenkorb mit schmutziger Wäsche an die Tür, und vom nächsten Tag an tat sie das immer. Damals begann sie auch, immer häufiger von den Banderowzen zu sprechen, womit sie alle ukrainischen Freiheitskämpfer über einen Kamm scherte. Wenn wir allein waren, erzählte sie mir, dass der Waggon, in dem sie im Jahre 1944 nach Lemberg kam, von ihnen beschossen wurde und sie große Angst vor ihnen hatte – fast so große wie vor den Deutschen. Jetzt ging es ihr ähnlich: Wieder wollten sie in ihren Waggon, und wenn sie den Kopf aus dem Fenster steckte, sah sie, dass an ihrer Spitze niemand anders als ihre Enkelin stand – meine Mama. Das Mädchen, mit dem sie seit vielen Jahren kein Wort gesprochen hatte. Das Mädchen, das gegen ihren Willen Sängerin geworden war und sich ihren Vorstellungen vom Leben widersetzte, indem sie für eine unabhängige Ukraine kämpfte. Der Wäschekorb wurde ein weiteres Bollwerk der Barrikade, die sie seit Jahren zwischen sich errichteten.

      Damals war es auch, dass Urgroßmutter sich angewöhnte, mich verbal einzuschüchtern. Sie fing mich im Flur ab und stellte sich mir in den Weg.

      »Sprich niemals laut Russisch!«, belehrte sie mich. »Eh du dich versiehst, ziehen sie dich in einen leeren Hauseingang und massakrieren dich!«

      Beim nächsten Mal fragte sie, ob ich Schewtschenkos Gedicht Zapowit auswendig könne.

      »Sie fangen Frauen und Kinder, verschleppen sie an einen geheimen Ort und befehlen