Das Licht der Frauen. Żanna Słoniowska. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Żanna Słoniowska
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783311700036
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fortgesetzt. Mikolaj und der Arzt hatten viel Zeit, um sich auszutauschen, und froren bis auf die Knochen, aber ein Rettungswagen war immer noch nicht da. Er tauchte erst auf, kurz bevor die Zuschauer auf den Platz vor dem Theater strömten. Sie lachten und schwatzten, rauchten und spuckten wie immer – nichts deutete darauf hin, dass noch jemand über den Vorfall nachdachte. Ganz offensichtlich war Fjetisow allein in die Aida gegangen.

      Nachdem Mikolaj seine Pflicht erfüllt hatte, ging er ins Theater zurück. Er wechselte ein paar Worte mit Nilowna, warf einen Blick auf die leere Stelle neben der Paradetreppe und ging nach unten in die Maske. Schon im Flur wusste er, an welcher Tür er klopfen musste. Ihre Stimme hallte wider und wies ihm den Weg.

      »Ich war unheimlich erschrocken! Ich habe mich versungen!«, sagte sie verzweifelt. Sie saß vor dem dreiteiligen Spiegel, das auf den Kosmetiktuben liegende, aufgeknöpfte schmutzig grüne Kleid erinnerte an den geöffneten Bauch einer ausgenommenen Forelle. Die Maskenbildnerin half Marianna, ihr Haar in Ordnung zu bringen. Vor nicht allzu langer Zeit war dieses Kleid Gesprächsthema Nummer eins im Theater gewesen: Die neue Aida-Inszenierung musste, wie jede sowjetische Aufführung, vor der Premiere von einer Kommission abgenommen werden, die aus einem breiten Kreis von Frauen aus der Partei bestand, die nach versteckten regimefeindlichen Anspielungen oder sonstigen Äußerungen politischer Unkorrektheit fahndeten. Diesmal hatten sie etwas an Amneris’ Kleid auszusetzen. Der Regisseur hatte vorgesehen, dass es blau wie das Mittelmeer und golden wie der Schmuck der alten Ägypterinnen sein sollte. Verdächtige Farbkombination! Das musste jedem klar sein: An einem Ort wie diesem durfte nicht einmal die Tochter des Pharao so auftreten.

      »Entschuldigung«, sagte Mikolaj. Er stand in der offenen Tür. Bislang hatte er nur einmal persönlich mit Marianna gesprochen: Der Beleuchter hatte sie am Buffet miteinander bekannt gemacht. »Bezaubernde Frau, eiskalte Schlampe«, hatte er Mikolaj gewarnt, bevor sie sich ihrem Tisch näherten.

      »Ich habe gehört, Sie haben bei dieser schrecklichen Sache geholfen«, sie senkte ihre Stimme, drehte sich um und streckte beide Hände nach ihm aus. Mikolaj war sich der Theatralik dieser Geste bewusst, ging aber ohne eine Sekunde zu zögern einen Schritt auf sie zu und legte sogar ihre eiskalten Hände an seine Brust. Die Maskenbildnerin verschwand.

      Mariannas Hände bewiesen unerwartete Geschicklichkeit, und sie war es schließlich, die den Tokajer öffnete. Sie hatten es mit einem Kugelschreiber versucht, mit einem Schraubenzieher und mit einem Schlüssel. Am Ende gewann ihr Schlüssel, der kurze und kräftige Haustürschlüssel. Er besaß ein untypisches ovales Ende, mit dem sie den Korken in die Flasche drücken konnten, ohne ihn zu zerkrümeln. Sie saßen in dem kleinen, nach der Schauspielerin Zańkowiecka benannten Theater-Café und öffneten den Wein unter dem Tisch – man schrieb die düsteren Jahre der Gorbatschow’schen Prohibition –, und ihre Hände berührten sich immer wieder. Sie bestellten sogenannte Cocktails: Traubensaft mit einer Kugel Eis. Sie waren allein im Saal, im Hintergrund liefen Alla Pugatschowas Hits. Hinter der Theke beobachtete sie aus halbgeschlossenen Trinkeraugen ein dicke alte Frau mit weißer Haube, die sie sich ins Haar geklemmt hatte. Gleich wie – Marianna hatte darauf bestanden, die Oper so schnell wie möglich zu verlassen und etwas zu tun, das ihr helfen würde, den Todesfall im Publikum zu vergessen.

      Sie redete ohne Ende. Über den heutigen Vorfall und über die Aida-Inszenierungen in anderen Theatern, über Nilownas harte Zeit im Krieg und das Gemurmel der unterirdischen Peltew, das in manchen Winkeln der Oper zu hören war. Und Mikolaj entdeckte, dass jedes der Themen, die sie mit gleichbleibender Begeisterung vorbrachte, auf ihn wirkte wie ihr Gesang – es war wie Christi Ruf an Lazarus. Ihm lief ein Schauer über den Rücken, wie er ihn noch nie gefühlt hatte, verschiedene Teile seines Körpers erwachten zum Leben: Plötzlich wurde ihm bewusst, dass er Knöchel und Zehen an den Füßen hatte, eine Lunge und Rippen, einen Adamsapfel und Wangenknochen, Handgelenke und einen Solarplexus. Die Wärme wanderte seinen Körper rauf und runter, als würde ihn jemand in ein Netz von Sonnenstrahlen einspinnen. Er sorgte sich nur, ob unter seinen Achseln nasse Flecken sichtbar würden, und goss unter dem Tisch den Wein in die Gläser mit den Resten des »Cocktails«. Das letzte Thema, die Verbindung von Oper und Peltew, bewegte Marianna besonders.

      »Es besteht kein Zweifel: Die Orchestermitglieder können sie hören«, sagte sie. »Und ich kann nicht aufhören, darüber nachzudenken.«

      Mikolaj ging unsicheren Schrittes zur Bar, bat um ein Glas und goss der Frau mit der Haube etwas Tokajer ein. Sie räusperte sich dankbar, trank das Glas mit einem Schluck aus, als wäre es Wodka, schaltete die Pugatschowa aus und verschwand in den hinteren Räumen.

      »Ich habe mir vorgestellt, wie Andrej Andrejewitsch und seine leblose Brille von einem Charon mit Nilownas Gesicht die Peltew hinuntergetragen wird«, sagte er, als er zu Marianna zurückkam.

      Ihre Stirn ist faltig, kein Wunder bei dieser lebhaften Mimik, dachte er, und ihr helles, leicht gewelltes Haar prangt triumphaler auf dem Kopf als ein Diadem es je könnte. Eine Amphore, dachte er weiter, sie ist eine Amphore voll unbekannter Flüssigkeit, und ich drohe zu verdursten.

      Es gab keinen rationalen Grund, warum sie die Flasche nicht im Café ausgetrunken hatten, sondern versuchten, sie senkrecht in seiner Tasche zu transportieren. Genauer gesagt war das seine Aufgabe, Marianna tastete nur von Zeit zu Zeit mit bloßer Hand danach. Gemeinsam erörterten sie das Schicksal des darin gefangenen Korkens – keine Kraft der Welt hätte ihn dort herausbekommen, ohne das Glas zu zerschlagen. Sie liefen ohne Ziel, streiften sich mit der Ungezwungenheit langjähriger Liebenden an den Mantelärmeln, machten Witze über plötzliche Todesfälle im Theater.

      »Kommst du mit mir in den Untergrund der Oper?«, fragte Marianna, nachdem sie sich auf eine feuchte Bank im Kościuszko-Park gesetzt hatten.

      »Pionierehrenwort«, erwiderte Mikolaj, holte den Tokajer heraus und nahm einen Schluck. Da regte sich etwas in dem nahegelegenen Gebüsch. Zwei Männer sprangen heraus, und Mariannas Schrei hallte durch den halben Park.

      »Bürgerwehr«, sagten die Herren und zeigten ihre Ausweise. »Kein Grund zu schreien, liebe Bürgerin. Ihre Papiere, bitte.«

      Sie begriff sofort, was ihr blühte: Alkoholkonsum im Park bedeutete Geldbuße, Meldung beim Arbeitgeber, dort einberufene Partei- und Gewerkschaftsversammlungen. Gegen die Antialkohollinie des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion zu verstoßen, hatte einen Eintrag in die Personalakte und die Streichung des dreizehnten Gehalts zur Folge.

      Das ganze Theater wird über meinen Abend mit dem jungen Bühnenbildner tratschen, dachte sie gleich darauf.

      Mikolaj hielt verblüfft den Ausweis des Mannes von der Bürgerwehr in der Hand. Daraus ging hervor, dass er ebenfalls Andrej Andrejewitsch hieß.

      »Genosse!«, rief Marianna. »Waren Sie je verliebt? So, dass Sie im Kalten schwitzten, dass Ihr ganzer Leib lebendig war und schmerzte vor Leben und die Kehle Arien sang?«

      »Nein«, erwiderte der Bürgerwehrmann, und sein Ton verriet, dass er unsicher wurde.

      »Ich liebe diesen Mann. Auf Gedeih und Verderb. Heute habe ich das verstanden. Und wir wollten das feiern. Um das zu beweisen, werde ich etwas für Sie singen, Genosse.«

      Marianna stand auf und intonierte leise die Moskauer Nächte.

      Der Mann, der seinen Ausweis gezeigt hatte, stand neben ihr und hörte zu, der zweite redete derweil mit Mikolaj. Marianna sollte nie erfahren, worüber sie sprachen, und auch nicht, ob dem Hüter der öffentlichen Ordnung diskret ein 25-Rubel-Schein in die Hand gedrückt wurde.

      Letzte Station dieses Abends war der Eingang des Hauses, in dem Marianna wohnte. Erschöpft standen sie im Dunkel des Parterres, die Glühbirne im Aufgang war durchgebrannt.

      »Mit der Liebe hast du wohl übertrieben«, sagte Mikolaj leise. Er war enttäuscht und angewidert von dem Zwischenfall im Park. Erhofft hatte er sich etwas ganz anderes: dass er ihr erzählen würde, wie er die Schachtel auf dem Dachboden in der Lew-Tolstoi-Straße gefunden hatte, dass er sie küssen würde. Ihm wurde kalt, er spürte die Müdigkeit im ganzen Körper.

      Marianna antwortete mit einem so lauten Lachen, dass hinter der Wohnungstür,