Das Licht der Frauen. Żanna Słoniowska. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Żanna Słoniowska
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783311700036
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die sie auswendig kannten. Mama kannte sich am besten mit Zwetajewa aus, mein Vater zog Blok entschieden vor. Die Legende besagt, dass sie keine Nacht ausließen. Ich weiß nicht, ob sie tagsüber neue Gedichte auswendig lernen mussten oder ob ihr bisheriger poetischer Vorrat ausreichend groß war. Man muss schon eine Menge Gedichte auswendig können, damit es für dreißig Nächte reicht. Ich weiß nicht, ob Zwetajewa und Blok überhaupt so viele geschrieben haben. In dem Sommer damals machten Aba und Urgroßmutter Urlaub am Schwarzen Meer, sodass der poetische Marathon, dem ich mein Leben verdanke, in unserer Wohnung stattfinden konnte.

      Das letzte Mal haben meine Eltern sich am 30. Juni auf einem Bahnsteig am Hauptbahnhof getroffen. Der Zug von Lemberg nach Moskau bebte von den Schlägen des Bahnmitarbeiters, der den Zustand der Waggons überprüfte, die befruchtete Eizelle vibrierte in meiner Mutter, mein Vater zitterte. Ihre Abschiedsworte waren von Majakowski:

      »Hört mal! Wenn die Sterne entzündet werden – heißt das, jemand braucht sie des Nachts?«, fragte Mama.

      »Es heißt: Für jemanden glitzert diese Spucke gleich Perlen«, rief mein Vater zurück, und der Zug setzte sich langsam in Bewegung. Danach haben sie sich nie wieder gesehen.

      Bemerkbar habe ich mich das erste Mal gemacht, als Mama einen Tag vor ihrem Examen ihre weiße Nylonbluse bügelte und sich die Welt vor ihren Augen drehte. Die gemeine Toxikose hielt man anfangs irrtümlicherweise für eine gewöhnliche Lebensmittelvergiftung und glaubte später noch lange, es handele sich um ein Symptom einer anderen chronischen Krankheit.

      Es wäre kein Problem gewesen, mich abzutreiben, doch Mama schaltete auf stur. Alle Argumente von einem verfehlten Start ins Leben blieben ungehört. Sie sagte auch meinem Vater nichts. Wie sie später erklärte, wollte sie in ihrer beider Poesie keine Prosa. Und alle Entscheidungen, die meine Mutter je getroffen hatte, waren unverrückbar wie ein Fels.

      Als dann der Schnee taute und die alten Frauen auf die Straßen gingen, um die Krokusse zu verkaufen, über die sie schützend ihre Hände hielten, wurde ich nach Hause gebracht. Der Überlieferung nach war es der erste richtige Frühlingstag, eine Sintflut von Wärme und Licht. Als wäre die Sonne zur Überprüfung in die Wohnung eingefallen, um jeden auch noch so unscheinbaren Fleck auf den Fensterscheiben zu durchleuchten. Aber zu meiner Ankunft waren die Fenster perfekt geputzt. Im Gegensatz zu der Glasmalerei in unserem Treppenhaus – sie musste viele Jahre warten, bis jemand mit einem Lappen kam und sie gründlich säuberte.

      Erst viel später erfuhr ich, dass nicht in jedem Wohnhaus eine Glasmalerei verborgen ist, und wenn eine da ist, dann eine viel kleinere. Unsere nahm das ganze Treppenhaus ein. Wie ein Vorhang trennte sie das Innere des Hauses vom Hof, zog sich durch alle Stockwerke von oben nach unten – oder umgekehrt. Wir wohnten im ersten Stock und brauchten nur die Tür zu öffnen, um ihren Mittelteil zu sehen: Reste einer feurig-braunen Unterwelt, aus der ein langer, einsamer Baumstamm herauswuchs, der einen türkisblauen See in der Mitte durchschnitt. Die Nachbarn über uns sahen das gegenüberliegende Ufer, an dem grüne Berge mit blauen Tannen aufragten. Wenn jemand auf den Dachboden stieg, sah er sie in das Weiß und Lila der Wolken übergehen. Die Nachbarin von unten, die verrückte Luba, sah gar nichts – der unterste Teil der Glasmalerei war vor langer Zeit verlorengegangen. An seine Stelle hatte man durchsichtige Scheiben eingesetzt, die die Enge unseres Innenhofs bloßlegten. Aus dieser Perspektive sahen die Hausmeisterin und ihre zahlreichen Kinder das Mosaik. Jeden Morgen zeigte sich eines von ihnen mit einem großen zu entleerenden Eimer am Abwassergitter und hob den Blick zur Unterseite des Mosaiks. Es war grau und ausgebaucht.

      »Sie haben keinen Komfort zu Hause«, sagte Aba in einem Ton, der mehr verurteilend als mitfühlend war.

      Glasmalerei I

      Aus meiner Kindheit hatte ich keine Erinnerungen an Mikolaj, deshalb bezeichnet der Tag, an dem die Glasmalerei geputzt wurde, für mich unsere erste Begegnung. Es war an einem Herbsttag Ende der neunziger Jahre. Vorboten waren ungebetene Gäste in unserem Treppenhaus.

      Sie kamen nachts, das neue Ziffernschloss an der Haustür hielt sie nicht ab. Offenbar kannten sie die Zahlenkombination. Sie tranken eine farblose Flüssigkeit aus Plastikflaschen, die sie auf der Treppe liegen ließen, und warfen bis zum Filter aufgerauchte Zigaretten weg. Manchmal konnte man hören, wie sie Lieder von Nirvana auf der Gitarre spielten. Sie pinkelten im Hof in die Ecken. Sie suchten das Weite, wenn Luba mit der Scheuerbürste einschritt. Immer mal wieder ging Luba zur Dienststelle auf der anderen Straßenseite, um sie bei den Milizionären anzuzeigen.

      »Sie machen Dreck!«, rief sie. »Drogenabhängige! Asoziales Verhalten!«

      Die Ordnungshüter in ihren zerknitterten blauen Hemden mit den schief angesetzten Schulterstücken standen während ihrer stundenlangen Zigarettenpausen unter unserem Balkon. Sie hatten die traurigen Gesichter von Hirten fernab der heimischen Karpaten, pflichteten Luba bei, spuckten auf den Boden und übersäten den Bürgersteig mit Kippen der gleichen Marke, die auch die nächtlichen Besucher rauchten. Sie hatten ihre Gründe, warum sie nicht eingriffen.

      Nach jedem nächtlichen Besuch fehlten ein oder zwei Glasstücke aus dem Mosaik.

      Barbaren, ärgerte ich mich. Stecken sich ein Kunstwerk in ihre löchrigen Taschen. Einfach so zum Spaß. Bald haben sie alles weggetragen, und was dann?

      Eines Nachts ging Aba im Schlafrock zu ihnen.

      »Ein Meisterwerk!« Ich hörte nur einzelne Worte. »Einzigartig! Hundert Jahre alt! Unersetzlich und für die Ewigkeit!«

      Die jungen Leute nickten gleichgültig, so wie die Milizionäre, aber von da an verschwanden keine Glasstücke mehr – die Gesellschaft hatte sich woandershin verzogen. Doch nach wie vor ging von den Leerstellen der gestohlenen Teile ein Gefühl der Bedrohung aus.

      Ein paar Monate später tauchten neue Gäste im Haus auf. Sie kamen tagsüber. Sie hatten Fotoapparate, machten Aufnahmen, maßen das Mosaik aus und zeichneten etwas auf einen Bristolkarton, der auf dem Fensterbrett ausgebreitet war. Ich fürchtete sie mehr als ihre Vorgänger. Sie sahen aus wie Wissenschaftler, und das verhieß nichts Gutes. Sie haben sich eine Genehmigung zum Abbau des Mosaiks bei der Stadt erschlichen, dachte ich entsetzt. Sie wollen es in irgendein Museum in Kiew bringen, es wird beim Transport kaputtgehen, und dann stürzt unser ganzes Haus ein, denn niemand kann eine Operation überleben, bei der ihm das Herz herausgeschnitten wird. Luba beobachtete die Neuankömmlinge nur halbherzig, denn sie machten keinen Dreck.

      »Haben Sie eine Genehmigung für die Untersuchungen?«, konnte sich Aba einmal nicht beherrschen zu fragen.

      Ihr antwortete ein großer Mann mittleren Alters, der wirkte, als sei er mit der Leitung betraut. Er sprach leise, ich konnte ihn kaum verstehen, obwohl ich mich mit meinem ganzen Gewicht gegen den Spion lehnte.

      »Machen Sie sich keine Sorgen. Wir dokumentieren die Glasmalerei im Auftrag des Lehrstuhls für Glas der Lemberger Akademie der Künste. Wir registrieren jeden Abschnitt. Wir wollen fertigwerden, bevor es zu spät ist.«

      Zu spät? Wie konnte er so etwas sagen?

      »Ich habe Sie nicht erkannt, guten Tag.« Abas Ton änderte sich plötzlich.

      Ich sah ihn mir genauer an: groß, lange Haare. Warum hatte ich nicht solche Dozenten? Meine trugen zerknitterte Anzüge und erweckten den Eindruck, zufällig an der Hochschule gelandet zu sein. Dieser hier schien bereit, für jedes seiner Worte mit dem Leben einzustehen. Vielleicht hatte er das schon getan und es auf einem mir unbekannten Altar abgelegt.

      Ich stand noch immer am Spion. Aba bot ihm an, auf einen Tee hineinzukommen, doch er lehnte ab.

      Als er auf dem Weg nach oben an unserer Tür vorbeikam, sah ich mir seine Schuhe an. Unnatürlich lange Lederschuhe. Einst streckten sie ihre Fühler durch den halben Flur, wuchsen stundenlang auf der gestreiften Fußmatte, ängstigten mich mit ihrer unbestreitbaren Männlichkeit. Schuhe aus vergangenen Jahren.

      Am nächsten Tag kam er in Turnschuhen, sportlich gekleidet, und holte Lappen und einen Eimer aus einer großen Tasche. Er klingelte an unserer Tür.

      »Darf ich um etwas Wasser bitten?«

      Ich