Reaktanz - Blindwiderstand erkennen und umnutzen. Carmen Thomas. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Carmen Thomas
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783863348137
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Mit der Zeit erfuhr ich immer mehr, dass sie nicht nur eine tumbe neanderthalermäßige Bockigkeits-Reaktion ist. Vielmehr lernte ich den Blindwiderstand immer mehr als eine bedeutsame Hilfe zur Veränderung zu schätzen.

      Im Laufe der Jahre zeichneten sich aus vielen herausfordernden Situationen vier Reaktanz-Bereiche ab:

      1. Ein Frühwarn-System aus der Steinzeit, eine Art „Fremdel-Gen“, das seine Berechtigung hat. Denn Hegel hat ja recht: „Man erkennt nur, was man kennt.“ Die Reaktanz-Gefühle heißen: Vorsicht, kann potenziell gefährlich sein. Ein weiser Grund, weshalb Menschen allem Neuen und Fremden erst mal widerständig begegnen (Beispiel: Ekel vor mit Lebensmittelfarbe grün gefärbter Milch oder vor Protein-Riegeln aus Grillen).

      2. Ein Gerechtigkeits-Sensor. Menschen reagieren ablehnend, wenn ihr „Paritäts-Bedürfnis“ gestört wird: das „Balance-Gen“. Es möchte quasi magnetisch für die Wiederherstellung des Gleichgewichts sorgen (Beispiel: Mitleid im TV mit einem drangsalierten, politisch komplett Andersdenkenden, der eigentlich unter „unsympathisch“ rangiert).

      3. Ein Autonomie-Gespür, das mit reaktanten Verwerfungen darauf reagiert, wenn jemand in seiner Entscheidungsfreiheit beschnitten oder beraubt wird. Das „Freiheits-Gen“ will sowohl die horizontale wie auch die vertikale Balance von unten nach oben wahren (Beispiel auf Augenhöhe: innerer Widerstand bei emotionalen Bevormundungen wie: „Der Film ist der beste, den ich je gesehen habe. Der wird dir mega gefallen!!!“). Und vertikal passiert das auch, wenn die Einschränkungs-Gefühle „nur“ emotional und vielleicht sogar unberechtigt sind. (Beispiel: Widerwillen beim durchaus sinnvollen Einweisen durch Parkwächter-innen).

      4. Ein angeborenes Harmonie-Streben, das „Friedens-Gen“, das Menschen bei Streit, Mobbing und Gewalt trotz Angst zum Eingreifen bewegen und mutig machen kann. Reaktante Gefühle zeigen an, wenn Harmonie und Freiheit so gestört werden, dass eine Änderung nötig ist (Beispiel: Einschreit-Impuls als Zeuge oder Zeugin bei unfairen oder rassistischen Äußerungen in der Bahn).

      ZEIT-Kolumnist Harald Martenstein bringt es auf den Punkt: „Reaktanz ist gut, weil sie eine Einheitsgesellschaft mit Einheitsmeinungen verhindert. Reaktanz ist der Beweis dafür, dass wir zur Freiheit geboren sind. (...) Ohne Reaktanz würden wir uns alle nach und nach in Gemüse verwandeln. Ohne Reaktanz läuft ‚Demokratie‘ auf eine massenpsychologische Zwangsherrschaft des Einheitsdenkens hinaus. Reaktanz ist die Kraft, die dafür sorgt, dass ein Meinungspendel nach einer gewissen Zeit wieder zurückschwingt. (…) Reaktanz ist politisch. Reaktanz führt dazu, dass Verbote sich, langfristig gesehen, nicht lohnen3.“

      „Reaktanz ist der Beweis dafür, dass wir zur Freiheit geboren sind.“

      Fakt ist für mich: Je mehr ich mich mit ihr befasse, desto mehr staune ich darüber, was die Reaktanz für eine starke und unterstützende Kraft ist. Wie eine Art emotionales Trüffelschwein, das ja auch „blind“ schon über der Oberfläche die Trüffel schnüffeln kann, erspürt sie treffsicher, wenn das innere Gleichgewicht, die Balance und die Harmonie in einer Angelegenheit, in einer Beziehung oder in Gruppen bedroht sind. Dieses angeborene „steinzeitliche“ Frühwarnsystem kann dabei helfen, das innere und äußere Gleichgewicht zu wahren oder wiederherzustellen. Mit der Reaktanz als Gerechtigkeitssensor lässt sich ein inneres Gespür für das richtige Maß und für die Wahrung der Freiheit finden. Wer reaktantes Verhalten als hilfreichen Impuls begreift und Methoden zum Vermindern hat, kann knifflige Situationen, den Umgang miteinander, das Betriebsklima in der Tiefe verbessern.

      Früher konnte ich Menschen, die sich reaktant verhielten, nicht besonders leiden. Sie störten mich richtig. Verwundert dachte ich: „Der/die war doch bisher ganz vernünftig. Und jetzt schießt er/sie auf einmal so quer! Wenn der oder die doch bloß nicht in der Gruppe wäre!“

      Das vorhin geschilderte gelassene Bis-fünf-Zählen ist heute mein erster Schritt. Es lohnt sich auch zu beobachten, ob diese Person die Balance selbst wiederherstellt oder ob sie’s noch eins weitergibt. Und hin- und dahinterzuhören, mit welchen Argumenten sie es tut. Denn die Reaktanz berät mich immer treffsicher dort, wo ein emotionaler Reibungspunkt von mir oder anderen übersehen wurde. Reaktantes Verhalten zeigt stets an, wo in einem Gespräch oder in einer Gruppe unbewusst eine emotionale Hürde entstanden ist, durch die das Gleichgewicht zu kippen droht. Und da der Blindwiderstand so gesetzmäßig auftritt, ist er auch so überraschend leicht kalkulierbar.

      Wer Reaktanz bei sich selbst und anderen zu erkennen weiß, kann sie umnutzen lernen, um so das Gleichgewicht sofort auf produktive und entstressende Weise wiederherzustellen.

      Wer Reaktanz bei sich selbst und anderen zu erkennen weiß, kann sie umnutzen lernen, um so das Gleichgewicht sofort auf produktive und entstressende Weise wiederherzustellen.

      Das wurde im Laufe der Jahre immer mehr zu meiner Leidenschaft: die Klugheit und Kreativität von Einzelnen und von Gruppen aktivieren und Haupt-Reaktanz-Auslösern methodisch begegnen – mit entstressenden Spielregeln, mit fein geschliffenen Code-Sätzen und mit handfesten Tools.

      Und je besser ich lernte, den Blindwiderstand umzunutzen, desto mehr erwies sich die Reaktanz als ein segensreiches Instrument. Was mir daran besonders gefällt: Ein kluger Umgang mit Reaktanz kann dabei helfen, mehr Fairness, mehr Gerechtigkeit und mehr Friedfertigkeit in Gruppen und überhaupt in alle Begegnungen von Menschen zu bringen. Und das gehört für mich zu den Zielen. Denn gerade in dieser aktuellen Zeit passieren so viele reaktant machende Dinge: Verunsicherung wegen des Klimas, der Technologisierung, den vielen Fremden, die nicht mehr in Terror und Armut leben wollen. Wann, wenn nicht jetzt, wäre es wünschenswert, die Gesellschaft positiv zu verändern? An die Stelle von instinktivem „Dagegensein“ könnte eine hilfreichere und friedfertigere, eine wertschätzendere und kompetenzsteigernde Umgangs-Kultur etabliert werden, die zugleich Grenzen konsequenter klärt und umsetzt.

      Wie ich dazu kam und wie die Entdeckungsphasen verliefen, welche unterstützenden Sätze, Tools und Methoden beim Weiterentwickeln halfen, das möchte ich im Folgenden an vielen Beispielen von prägenden Erlebnissen und verändernden Erfahrungen anbieten.

      Live aus Dublin ohne Ahnung oder:

      Wie alles anfing

      Mein Start als Radiomoderatorin mit 21 Jahren ergab sich durch Zufall. Aus dem Stand – ohne ein einziges Wort der Instruktion und außerdem noch komplett ohne Internet – war der Auftrag, eine erste Live-Reportage über Reisemöglichkeiten in Irland für das WDR-Morgenmagazin auf WDR 2 zu machen. Das war 1968 praktisch der einzige Sender in NRW.

      Unvorstellbar heutzutage: Radio war damals viel wichtiger als Fernsehen. Denn Fernsehen – das waren ja erst mal nur zwei Programme und später die Dritten, die fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfanden. Und die beiden Haupt-Programme sendeten bis in den Nachmittag hinein das Testbild. Und ab ca. 23:30 Uhr auch wieder.

      Die Live-Sendung „Morgenmagazin“ war mit über 7 Millionen Hörer-inne-n die meistgehörte Sendung in NRW. Na toll. Wegen des enormen Lampenfiebers sind bei mir nur noch schemenhafte Erinnerungen an diese Live-Reportage aus Dublin und das Bild eines gruselig-chaotisch beschriebenen Spickzettels vorhanden. Irgendwie brachte ich es dann doch hinter mich, auch wenn ich Blut und Wasser schwitzte und das Gefühl hatte, nur Unsinn geredet zu haben.

      Im Nachhinein empfinde ich viel Dankbarkeit für die Chancen, die sich daraus für mein weiteres Leben ergeben haben. Aber an sich war es rückblickend und mit meinem heutigen Kenntnisstand unverantwortlich, so untrainiert und reaktant bis unter die Haarwurzeln auf die Menschheit losgelassen zu werden.

      Da die Redaktion den Auftritt offenbar weniger schrecklich fand als ich selbst, gehörte ich nach drei Monaten und zwei Probesendungen ab August 1968 zum Team der ersten Moderatorinnen des WDR-Morgenmagazins. Das war damals nämlich die einzige Sendung in der Abteilung Politik, bei der Frauen geduldet waren – allerdings nur in Form der Doppel-Moderation mit Männern. Unverhohlen und natürlich