Reaktanz - Blindwiderstand erkennen und umnutzen. Carmen Thomas. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Carmen Thomas
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783863348137
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die Ideen. Und dann greift das bislang ungeschriebene Reaktanz-Gesetz: „Ab dem/der Fünften kippt’s“: Es ist fest damit zu rechnen, dass spätestens ab der fünften Meinungsäußerung das gesetzmäßig reaktante Dagegenhalten eintritt. Je nach Charakter von Nr. 5 oder sogar 6 kann es auch mal bis zum siebten oder achten Rundenmitglied dauern, bis es passiert. Aber dann widerspricht unvermeidlich jemand dem allgemeinen Tenor – oft ohne selbst zu wissen, weshalb, und manchmal sogar gegen die eigentliche persönliche Überzeugung. Das geschieht bei zu glamourösen Schilderungen, bei allzu großer Einigkeit oder bei dem Gefühl, nicht auf der „Schleimspur von Nettigkeit“ der Vorherredenden ausglitschen zu wollen. Ist das emotionale Gleichgewicht gestört, dann will die Balance einfach wiederhergestellt werden.

      Es funktioniert tatsächlich so gesetzmäßig wie bei (Hufeisen-)Magneten in der Physik: Wenn ein Pol des Magneten abgetrennt wird, organisiert sich wie durch Zauberhand sofort der entgegengesetzte am abgeschnittene Ende neu. In meinen Coachings und Trainings demonstriere ich das gern an einem Beispiel.

      Ich unterbreche ganz nebenbei den Ablauf und hole ein neutrales Gläschen mit handelsüblichen Pfefferminzbonbons hervor. Mit großer Geste gehe ich jetzt von links nach rechts an den ersten fünf Teilnehmerinnen und Teilnehmern vorbei und sage mit übertrieben begeistertem Tonfall: „Ich habe hier suuuperleckere Pfefferminze. Wirklich ganz außergewöhnlich lecker. Bestimmt haben Sie noch nie so wohlschmeckendes Pfefferminz gegessen.“ Manchmal unterschreite ich dann auch noch die körperliche Individualdistanz und drängele: „Hier, probieren Sie mal!“

      Und dann fange ich die Runde noch mal von vorn an und frage provokant: „Und? Wie schmeckt es?“

      Erfahrungsgemäß antwortet die erste Person meist mit schal-höflichem Unterton: „Gut.“

      „Na ja, halt wie Pfefferminz“, sagt die zweite Person schon einen Hauch gereizter.

      „Normal“, echot die Dritte noch einen Hauch abweisender.

      „Schmeckt wie TicTac“, sagt die Vierte dann schon leicht patzig.

      Und voll aufgestauter Reaktanz flötet die Fünfte jetzt entweder übertreibend: „Hmmmmm, himmmmlisch!“ Oder sie bricht – durch die unehrliche Höflichkeitswelle getriggert – in offene Aggression aus: „Total langweilig!“ Oder sagt angewidert: „Die schmecken irgendwie komisch!“

      Die Reaktanz sorgt dafür, dass jede Art der Bevormundung, jede Aufdringlichkeit, jede Unterdrückung zur entgegengesetzten Instabilität führt. Also: Zu viel Schwärmen lässt mechanisch in Abwehr kippen. Zu viel Maulen ins Zustimmende. Besonders faszinierend ist, dass es tatsächlich in beide Richtungen funktioniert: Wenn ich die Bonbons mit den Worten präsentiere: „Bitte probieren Sie mal, die schmecken doch irgendwie komisch?“, führt das gesetzmäßig dazu, dass das Gegenteil der emotionalen Bevormundung eintritt und die Nächsten die Bonbons plötzlich besonders lecker finden.

      Die Reaktanz sorgt dafür, dass jede Art der Bevormundung, jede Aufdringlichkeit, jede Unterdrückung zur Instabilität führt. Also: Zu viel Schwärmen lässt mechanisch in Abwehr kippen. Zu viel Maulen ins Zustimmende.

      Dieser Ablauf passiert so sicher wie das Amen in der Kirche.

      Einmal hatte ich die Bonbons nicht dabei. Über 100 Leute im Saal. Da ich schon mit der kleinen Vorbereitungsshow begonnen hatte, verlegte ich mich in meiner Not kurzerhand darauf, so zu tun, als hätte ich Pfefferminzbonbons. Und siehe da: Alle, die die virtuellen Pfefferminzbonbons angeboten bekamen, spielten spontan mit und fanden die Bonbons überraschend lecker. Und Bingo, selbst bei den rein imaginären Bonbons sagte Teilnehmerin Nr. 5 wie auf Bestellung: „Die sind bestimmt vergiftet.“ Herrlich – das ist Reaktanz in Reinkultur.

      Das Phänomen, dass immer die fünfte Person kippt, hat übrigens zwei Richtungen.

      > Ich kann das Kippen selbst erzeugen (monaktionell): „Ist das nicht unfassbar lecker?“

      > Das Kippen wird von Gruppen ohne mein Zutun und ohne emotionale Bevormundung („Wie finden Sie die Uhr?“) selbst erzeugt, als heimlich „beratender“ Impuls aus dem Yin-Yang (koaktionell).

      Das Pfefferminz-Beispiel ist die Form der selbst verursachten Reaktanz: Ich bevormunde Menschen mehr oder weniger bewusst und verursache damit Reaktanz und Mauern. Diese Form ist besser zu steuern, weil es leichter fällt, auf eigenes Verhalten Einfluss zu nehmen. Sprich: Emotionale Bevormundungen lassen sich mit Hilfe der Reaktanz-Körperempfindungen wahrnehmen, modifizieren und sogar unterlassen.

      Und dann ist da das noch tiefer greifende Phänomen der „koaktionell verursachten Reaktanz“, die ohne eigenes Zutun im Umgang mit anderen entsteht. Als Beispiel zum „koaktionellen Selbsterleben“ halte ich in Gruppen gern meine Armbanduhr hoch und frage ganz sachlich: „Wie finden Sie meine Uhr?“ Und dann läuft ein gesetzmäßiger Prozess ab:

      1. Person: „Die Uhr ist groß und gut lesbar.“

      2. Person: „Schwarz und weiß finde ich gut.“

      3. Person: „Da sind auch noch Zusatzfunktionen unten drauf.“

      4. Person: ärgert sich, weil diese intelligente Beobachtung nun vorweggenommen ist. Und um nicht nachzuquasseln, oder die Gruppe mit „Ich wollte das Gleiche sagen wie mein-e Vorredner-in“ zu langweilen, rettet sich die Person nun auf die äußeren Knöpfe zum Funktionenändern. Und dann kommt’s. Mit schöner Regelmäßigkeit kippt die

      5. Person jetzt zuverlässig reaktant und sagt, um die Schleimspur von Nettigkeit zu beenden, mit fast vorwurfsvollem Tonfall so etwas wie: „Ich finde diese Uhr für ein Frauenhandgelenk viel zu groß.“

      Das Spannende daran ist, dass das auch dann geschieht, wenn diese Person der Uhr vorab die höchste Punktzahl gegeben hätte. Der Blindwiderstand hat dafür gesorgt, dass die Person nicht mehr ihrer eigenen Meinung ist. Und wenn die zweite Person bereits ins übertriebene Schwärmen oder Ablehnen geraten wäre, dann wären bereits Nr. 3 oder 4 in die Reaktanz-Falle geraten.

      In diesem Beispiel liegt die Chance, die Gruppendynamik so durchschauen zu lernen, dass die Gesetzmäßigkeit aktiv umnutzbar wird. Das koaktionelle Kippen zeigt vor allem das erstaunliche Phänomen, dass Menschen in einer Gruppe quasi unfreiwillig zum Balancieren und Komplettieren des Yin-Yangs verführt werden können – bis hin zu dem Punkt, dass sie nicht mehr ihrer eigenen Meinung sind.

      Wer beide Sorten von Reaktanz verstehen und umnutzen lernt, erhält damit zwei Werkzeuge, um bewusst eine bessere Umgangs-Kultur zu erzeugen.

      Die Einsicht um das Kippen des fünften Menschen half nicht nur mir. Kürzlich erzählte mir zum Beispiel ein bekannter Wirtschaftsboss, der längere Zeit im Coaching war: „Früher bin ich, sobald mein Hals schwoll, immer sofort reingegangen und hab draufgehauen, nach dem Motto: ‚Wehret den Anfängen‘. Jetzt lehne ich mich in allen Gremien zurück, zähle gemütlich bis fünf, höre hin, verstehe meistens sofort oder frage freundlich nach. Ich sehe, dass mich alle erstaunt anschauen und sich fragen: ‚Was nimmt er wohl seit einiger Zeit?‘“

      Für mich bedeutet jedes Erlebnis mit Einzelnen und mit Gruppen stets, die Reaktanz immer besser verstehen zu lernen. Deshalb kann ich heute viel gelassener reagieren. Denn ich begreife reaktante Äußerungen und Verhaltensweisen nicht mehr als individuelle Fiesheiten, sondern als ungeplanten Hinweis darauf, dass die innere oder äußere (Entscheidungs-)Freiheit bedroht wird. Die Auslöser sind oft ganz filigran: ein reaktanziger Tonfall kann ausreichen, und schon wird das Gegenüber verwunderlich-reizbar und blockierend. Wer an das Zusammenleben mit pubertierenden Teenagern denkt, merkt: Das kann ein einziges Reaktanz-Minenfeld sein.

      Eins ist für mich inzwischen verständlicher: Reaktanz ist einer der Hauptgründe, weshalb Menschen und Gruppen neue Ideen oder Anregungen nicht sofort begeistert begrüßen und annehmen können, sondern gerade Innovatives standardmäßig ablehnen. Das ist an sich ja eher lästig und verkomplizierend. Auf jeden Fall wirkt es auf den ersten Blick nicht sonderlich nützlich oder hilfreich.

      In über 50 Jahren als