Reaktanz - Blindwiderstand erkennen und umnutzen. Carmen Thomas. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Carmen Thomas
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783863348137
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kann. Reaktanz wird in der Regel durch psychischen Druck (emotionale Argumentation, Nötigung, Drohungen) oder die Einschränkung von Freiheits-Spielräumen (Verbote, Zensur) ausgelöst. Als Reaktanz im eigentlichen Sinne bezeichnet man dabei nicht das ausgelöste Verhalten, sondern die zugrunde liegende Motivation oder Einstellung.“

      Das heißt, dass die Reaktanz, also der „innere Blindwiderstand“, psychologisch dann entsteht, wenn ein Mensch die eigene Entscheidungsfreiheit gefährdet sieht. Inklusive der Tendenz, gegen diese Bedrohung zu rebellieren, ergibt sich daraus eine innere Abwehrhaltung, ein unklarer, also blinder Widerstand gegen Beeinflussungsversuche bis hin zu blockierenden Trotzreaktionen. Ist jetzt wohl schon eine erste Idee entstanden, was reaktantes Verhalten ist?

      Die Reaktanz, also der „innere Blindwiderstand“, entsteht dann, wenn ein Mensch die eigene Entscheidungsfreiheit gefährdet sieht.

      Und das legen Menschen buchstäblich ja bereits seit Adam und Eva an den Tag: „Dann legte Gott, der Herr, einen Garten im Osten an, in der Landschaft Eden, und brachte den Menschen, den er geformt hatte, dorthin. Viele prachtvolle Bäume ließ er im Garten wachsen. Ihre Früchte sahen köstlich aus und schmeckten gut. (…) Er gab ihm die Aufgabe, den Garten zu bearbeiten und ihn zu bewahren. Dann schärfte er ihm ein: ‚Von allen Bäumen im Garten darfst du essen, nur nicht von dem Baum, der dich Gut und Böse erkennen lässt‘“, so heißt es in der Schöpfungsgeschichte (1. Mose 2,8-9; 16-17). Und vermutlich ist den meisten noch in Erinnerung, was diese winzige Einschränkung in der Entscheidungsfreiheit und die darauf folgende Reaktanz alles ausgelöst hat.

      Irre, dass das bis heute unverändert genau so weiterläuft. Und das von klein auf. Kürzlich traf ich den TV-Moderator und Arzt Eckart von Hirschhausen. Er fragte, was ich denn aktuell mache. Ich sagte: „Ein Buch über Reaktanz schreiben.“ Und da haute er mich vom Hocker, indem er in all den Jahren, in denen mich die Reaktanz bereits fasziniert, der erste Mensch war, der auf Anhieb etwas Konkretes zum psychologischen Teil des Themas beizutragen hatte: „Den Begriff kenne ich von meiner Frau. Die ist Psychologin. Sie hat mir auch ein illustrierendes Beispiel erzählt: Wenn ein Kind zwanzig Buntstifte bekommt und ihm jemand sagt: ‚Du darfst mit allen 19 Stiften malen, nur nicht mit dem gelben‘, dann will das Kind natürlich unbedingt mit dem gelben malen.“ Von Hirschhausen grinste: „Das darf ruhig mit Quellenangabe mit ins Buch kommen.“ Voilà: ist verdient.

      Ein anderes, vermutlich gut bekanntes Beispiel ist der Gedanke: „Vor dem Urlaub muss ich unbedingt drei Kilo abnehmen! Ab sofort gibt’s FdH-Diät!“ Und schwupps – schon folgt eine Fressattacke nach der anderen, die die Bikini- beziehungsweise Tarzan-Figur aufs Tragischste boykottiert.

      Diesen „Jetzt erst recht“-Effekt, der zu den Reaktanz-Reaktionen gehört, nutzt auch die Werbung für sich, indem sie mit Schlagwörtern wie „Nur so lange der Vorrat reicht“ oder „Nur noch fünf Stück auf Lager!“ eine Knappheit suggeriert, die das Angebotene besonders begehrenswert macht. Wenn Kundinnen und Kunden so ihre Wahlfreiheit bedroht sehen, sind sie versucht, den reaktanten Spannungszustand abzubauen. Dabei kann dann allerhand passieren: fieberhaftes Bemühen, um den schwer zugänglichen Artikel zu bekommen. Aber auch Trotz mit Abwertung des Gegenstands oder Aggression mit Ächtung des Geschäftes.

      Oder: Wenn im Lokalteil der Zeitung steht, dass das alte Kino im Ort dichtgemacht werden soll, sind Menschen plötzlich aufgebracht, traurig, ja zornig, weil diese Möglichkeit der Freizeitgestaltung wegfällt. Und das auch, wenn sie im Grunde schon seit Jahren nicht mehr in dem Kino waren und auch kein Bedürfnis danach verspürt haben, weil die Sitze dort unbequem waren, das Popcorn muffig schmeckte und die Filmauswahl bei Netflix sowieso besser ist. Angesichts der bedrohten Entscheidungsfreiheit ist das alles plötzlich nebensächlich: Aus der Reaktanz gespeist sollen bisher gewohnte Möglichkeiten dann unbedingt erhalten werden.

      Der Psychiater und Begründer der Logotherapie, Viktor E. Frankl, nutzte bei seinen Patienten etwas, das er „paradoxe Intervention“ nannte. Und das ist im Grunde umgenutzte Reaktanz: Wer Schlafstörungen hat, so Frankl, solle sich mit aller Kraft vornehmen, unbedingt wach zu bleiben – und schläft dann unweigerlich ein. Wer bei Auftritten in der Öffentlichkeit errötet, versuche beim nächsten Mal mit aller Kraft, rot anzulaufen – und dann geht es nicht.

      Und hier noch eine schmutzige Erfolgs-Geschichte unter dem Motto „Reaktanz künstlich erzeugen, um damit auszubeuten“: Der Finanzbetrüger Bernie Madoff nutzte ab den 1960er-Jahren in den USA über lange Zeit den Reaktanz-Trick: Er verbreitete überall, er könne leider keine anlagewilligen Kunden mehr annehmen – egal, wie viel Geld sie anböten. Mit dieser angeblichen Verknappung löste er einen regelrechten Run auf seine Firma aus. Und dann veruntreute er die ihm anvertrauten Gelder in Milliardenhöhe. Er schreckte auch nicht davor zurück, gemeinnützige Organisation und Stiftungen zu schröpfen.

      Mich hat die Einsicht fasziniert, dass die Reaktanz als Blindwiderstand ganz unbewusst aufkommt. Denn klar: Wem etwas gegen den Strich geht, das er oder sie begründetermaßen als scheußlich oder schlecht empfindet, der oder die stellt sich meist offen dagegen und rebelliert. So erleben die meisten Menschen den normalen erkennbaren inneren Widerstand.

      Bei der Reaktanz dagegen spricht interessanterweise als Erstes der Körper unwillkürlich mit. Es ist eine deutlich spürbare, aber verdeckte Sprache, die offenbar aus einer chemischen Reaktion des Körpers stammt: Der berühmte „dicke Hals“ schwillt an, der Bauch wird hart, oder es entsteht Druck irgendwo anders im Körper. Die Stellen sind individuell verschieden. Aber – und das ist der Unterschied – der Grund dafür ist nicht sofort transparent. Er ist „blind“. Ein Mensch versteht sich dann plötzlich selbst nicht mehr: „Ich bin dagegen, ich weiß aber gar nicht, warum.“ Dieser innere Blindwiderstand kann komplizierenderweise sogar dafür sorgen, dass ein Mensch nicht mehr seiner eigenen Meinung ist und anders empfindet als sonst, ohne das recht einordnen zu können.

      Bei der Reaktanz spricht als erstes der Körper unwillkürlich mit: Der berühmte „dicke Hals“ schwillt an, der Bauch wird hart, oder es entsteht Druck irgendwo anders im Körper.

      Es passiert ständig und unterschwellig überall. Sowohl im Umgang mit sich selbst als auch im Verhalten mit anderen: in der Familie, im Job, in Gruppen, in der Freizeit, im Internet. Shitstorms mit komplett unbekannten Menschen können Beispiele für Widerstand und für Blindwiderstand sein. Den „Shittys“ ist ja oft selbst nicht wirklich klar, weshalb sie sich gerade diesen Menschen zum Anscheißen herauspicken. Sie durchschauen nicht genau, was die Wurzeln ihrer Wut auf einen komplett fremden Menschen in Wirklichkeit sind.

      Ich nenne diesen körperlich spürbaren Impuls gern spaßeshalber „Grüße aus dem Neanderthal“. Denn die instinkthafte Reaktanz gab es ja schon in der Steinzeit. Da war sie für die frühen Menschen unter Umständen überlebenswichtig. Unbekanntes verursacht zuverlässig bis heute diese blockierende Fremdel-Angst oder einen merkwürdigen, sachlich eigentlich unbegründeten Ekel. Und das war ja immer schon gut so. Schließlich mussten die Urvorfahren erst mal schmerzlich lernen: „Alles ist essbar. Aber manches nur einmal.“ Deshalb konnte sich instinktive, scheinbar grundlose Spontan-Abwehr als lebensrettend erweisen.

      Und im nächsten Schritt provozierte das „neanderthalerische Keulen-Gen“ den Impuls, auf das Undurchschaubare, Fremde, Verunsichernde, ja Einschüchternde sicherheitshalber erst mal draufzuhauen. Auch diese Reaktion ist eigentlich bis heute ganz ursprünglich, von der Reaktanz getriggert, in den meisten Menschen erhalten geblieben – nur die Form der Keulen hat sich geändert

.

      Das ist täglich erlebbar. Hier ein paar bekannte Situationen als Beispiel:

      Bei Unbekanntem: Jemand bietet Ihnen gebratene Seidenraupenlarven zum Probieren an, mit der Versicherung, dass die leckerer und gesünder als Krabben seien. Jetzt greift die Neanderthal-Reaktanz. Motto: „Wat der Buur net kennt, freet he nich“.

      Bei emotional Bevormundendem: Jemand stellt voller Begeisterung ein neues Projekt in der Firma oder einen tollen Urlaubsplan in der Familie vor. Zwei typische Basis-Reaktionen – je nach Beziehung und Hierarchie – laufen so ab: Entweder erklingt spontanes Maulen: