Reaktanz - Blindwiderstand erkennen und umnutzen. Carmen Thomas. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Carmen Thomas
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783863348137
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vor. Der Autor, dessen Buch in der Pressekonferenz vorgestellt werden sollte, ist sehr bekannt und sehr umstritten und vielleicht ist er sogar zurzeit eine der meistgehassten Personen Deutschlands. Bei der Pressekonferenz war daher zu erwarten, dass ihm von Seiten der Journalist-inn-en eine so feindselige Stimmung entgegenschlagen würde, wie es bei seinen jüngeren öffentlichen Auftritten leider jedes Mal der Fall gewesen war. Ebenso erwartbar: unfaire Fragen und nachfolgend eine von Vorurteilen gefärbte Berichterstattung. Das Team fragte sich: Wie lässt sich diese Pressekonferenz so gestalten, dass der Autor zumindest eine faire Chance erhält?

      Da uns schon ein wenig über die Macht der Reaktanz und die Möglichkeiten zum Umnutzen bekannt war, wurde Carmen Thomas um Rat gebeten. Die Beteiligten bekamen Herausforderndes zu hören: „Die Sitzordnung ändern: kein Podium, einfach drei normale Stühle. Barrierefrei und ohne Abgrenzung, um die Reaktanz zu senken. Autor und adeo-Team von Anfang an mit den Medienleuten auf Augenhöhe. Die Stühle für die Presse halbkreisförmig anordnen statt in geraden Reihen. Ohne lange Vorreden loslegen und vor allem ohne den Versuch, die Journalist-inn-en mit gefakt-vorbereiteten Antworten zu steuern oder zu manipulieren. Das macht nur reaktant. Stattdessen gleich zu Anfang alle Anwesenden bitten, sich in einer kurzen Runde mit Namen und Funktion vorzustellen und eine erste Frage an den Autor zu nennen. Die Fragen alle notieren und nacheinander beantworten. So entsteht ein ernst nehmendes Klima auf beiden Seiten. Und wer nicht anonym im Raum ist, verhält sich anders, inklusive Beißhemmung.“

      „Ach du Schreck“, dachte das Team. „Kann das funktionieren – bei 60, 70 Leuten? Das dauert doch viel zu lange! Und was, wenn das Ganze völlig aus dem Ruder läuft?“

      Doch mit dem Einverständnis des Autors ließ sich das Team auf das Wagnis ein und setzte die Anregungen von Carmen Thomas um. Und erlebte Verblüffendes: Alle Journalist-inn-en spielten nach kurzem Erstaunen bereitwillig mit, und es war spürbar, wie sich die Stimmung im Raum dank des ungewöhnlichen Settings und durch die Vorstellungsrunde positiv veränderte. Es gab viele kluge Fragen und keine einzige gemeine. Eher entspann sich ein von Respekt und Offenheit geprägter Dialog zwischen Autor und Journalist-inn-en. Die vorab befürchteten Reaktanz-Reaktionen blieben einfach aus.

      Noch positiver überrascht als der Autor und das adeo-Team waren manche Journalist-inn-en. Von denen spiegelten hinterher mehrere „altgediente Recken“ beeindruckt, dass sie so eine Pressekonferenz ja noch nie erlebt hätten.

      Wer vorher noch nicht 100 % überzeugt von Carmen Thomas’ Erkenntnissen rund um die Kraft der Reaktanz und vom handfesten Nutzen ihrer praxiserprobten Werkzeuge für ein besseres Miteinander war, wurde hier auf äußerst beeindruckende Weise eines Besseren belehrt.

      Reaktanz,

      was ist denn das?

      Dieses Buch handelt von einer großen Entdeckung für mein persönliches und berufliches Leben: von der Kraft der Reaktanz.

      „Wie bitte?“, fragen Sie jetzt vielleicht. „Ach näää, Reaktanz, was soll das denn schon wieder sein?“ Da haben sich viele gerade erst von der allgegenwärtigen „Resilienz“, der inneren Widerstandskraft, erholt, und nun kommt schon wieder so ein sperriger Begriff daher? Oder finden Sie das Wort Reaktanz etwa sexy? Ich offen gestanden nicht.

      Und echt schlimm ist ja, dass das gerade mir passiert: mich in ein Phänomen zu verlieben, das auf ein so befremdliches Fachwort hört. Denn zu meinen Markenzeichen im Radio gehörte stets, dass ich Expertinnen und Experten konsequent fragte: „Können Sie das auch auf Deutsch sagen?“, wenn sie solch fremde Fremdwörter benutzten. In zahllosen Briefen wurde ja von meinem Publikum zu Recht geschimpft, wie unverständlich die Sprache von Fachleuten sei.

      Seit ich die Reaktanz für mich entdeckte, habe ich immer wieder festgestellt, wie lange es allein schon braucht, sich einfach nur das fremde Wort zu merken. Und die deutsche Übersetzung „Blindwiderstand“ ist kaum besser. Widerstand – okay. Aber was soll das „Blind“ denn dabei? Wenn das beides schon so bescheuert-abstrakt heißt, wer kriegt da schon Lust, hinter dieses Phänomen zu schauen?

      Das Blöde ist allerdings, dass wirklich neue Dinge, die es bisher noch nicht gab, leider auch neue Begriffe brauchen. Also gibt es ein Problem. Ach nein. Ein Berliner Hoteldirektor brachte mir mal bei: „Probleme? Gibt es hier nicht. Hier existieren nur Lösungsbedarfe.“

      Also gut, mein Lösungsbedarf sieht so aus: Wie kann es gelingen, Ihnen die Sache mit der Reaktanz auf möglichst einfach-amüsante Art schmackhaft zu machen? Wie lässt sich ein Thema, von dem Sie vermutlich noch nie im Leben gehört haben, so vermitteln, dass Sie neugierig werden und mehr darüber wissen wollen – zumal es Ihnen täglich mehrfach begegnet, wie Sie beim Lesen erfahren werden?

      Okay. Wie sagte dieser witzige Lehrer im Film „Die Feuerzangenbowle“ doch so schön? „Da stelle mer uns ma janz dumm!“ ... und fangen „janz vorne“ an.

      Im Lexikon steht: „Den Begriff der Reaktanz gibt es als ‚Blindwiderstand‘ sowohl in der Elektrotechnik als auch in der Psychologie.“

      Die elektrotechnische Reaktanz hat ein Mann aus Breslau „erfunden“, der 1865 als Carl August Rudolph Steinmetz geboren wurde und als Sozialist 1889 in die USA emigrieren musste. Dort nannte er sich dann Charles Proteus Steinmetz. Um die Jahrhundertwende galt er zusammen mit Einstein, Tesla und Edison als einer der führenden Elektroingenieure. Doch seinen Namen kennen sogar Physiker heutzutage nicht mehr. Dabei dürfte er ein sehr interessanter Mensch gewesen sein: Gehandicapt und nur 1,30 Meter groß, wird er als genial scharfsinnig beschrieben. Er hat als Erster das Phänomen der Reaktanz in der Elektrotechnik beschrieben und benannt. Hier ist er rechts neben Einstein zu sehen.

      In der Elektrotechnik steht Reaktanz für „eine Größe der Elektrotechnik, die einen Wechselstrom durch Aufbau einer Wechselspannung begrenzt (…). Der Zusatz ‚blind‘ rührt daher, dass elektrische Energie zu den Blindwiderständen zwar transportiert, aber dort nicht in Energie umgewandelt wird.“ So steht’s bei Wikipedia.

      Uff, Bahnhof!? Genauso ratlos, wie Sie jetzt vielleicht gucken, lässt mich das auch zurück. Könnte das bedeuten, dass der Reaktanz-Blindwiderstand eine Gesetzmäßigkeit ist, die erstens nicht zu beeinflussen und zweitens ohne produktiven Output ist? Hmmm. Also, die Mechatronikerin meines Vertrauens erklärte mir das so: „Jedes Autofenster hat im Fensterheber ein Relay. Durch seinen Widerstand verbraucht es auch dann ständig Strom, wenn es nicht bedient wird. Der Blindwiderstand verhindert im Auto, dass Energie fließt. Damit wird die Energie blockiert und der Strom am Fließen gehindert, bis der Fensterheber aktiv benutzt wird, oder jemand den Finger dazwischensteckt. Der Reaktanz ist eine schnelle Reaktion zu verdanken, und dass der Finger dranbleibt.“

      Das finde ich jetzt gar nicht so übel. Genauso verbraucht die Reaktanz in der Kommunikation Energie und blockiert den Energiefluss, der nötig ist, um Lösungen zu finden. Denn die innere Energie wird im Blockieren gebunden.

      Und die psychologische Seite der Reaktanz? Laut dem „Digitalen Wörterbuch der Deutschen Sprache DWDS“ taucht das Wort „Reaktanz“ in der Presse nur selten auf. 2011 gab es einen großen Artikel in der ZEIT zum Thema Reaktanz mit dem Titel „Sog der Masse“1. Darin geht es um das sozialpsychologische Phänomen der Reaktanz. Und das hat sich Jack Brehm, Harvard-Absolvent und Professor an der Universität von Kansas, ausgedacht und mit seiner Frau Sharon beschrieben. Das ist er:

      

Über ihn gibt es nicht mal einen Wikipedia-Eintrag. Bekannt ist, dass er von 1928 bis 2009 lebte und 1966 das erste Buch über die Theorie der Reaktanz schrieb2. Schade, dass er schon tot ist; ich hätte ihm gern dieses Buch geschickt und ihm geschrieben, wie dankbar ich ihm für seine Erkenntnisse bin.