Ich hasse Menschen. Eine Abschweifung. Julius Fischer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Julius Fischer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783863912109
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auszumalen, was er in romantischen Momenten so tut. »Liebste, dein Haar ist so schön wie … dein Haar.«

      Er ist eben ein Mensch, der sehr empfänglich für die Schwingungen seiner Umgebung ist.

      So wie ich gerade. Ich bin schwach. Ich kann mir keinen anderen schönen Ort vorstellen als einen Zug. Ich kann einfach nicht. Und ich kann mir auch keinen anderen Zeitpunkt vorstellen als ebenjenen, in welchem ein Zug auf freier Strecke zum Halten gekommen ist. Ich hasse meine Gedanken.

      Das letzte Mal, als ich länger so in der Gegend herumstand, war ich mit vier Freunden auf Tour. Lesetour. Mit Bassist. Boris the Beast. Außerdem anwesend waren Marc-Uwe und Maik. Der Einzige, der fehlte, war unser Kollege Sebastian, der bereits zwei Stunden vor uns in den Zug gestiegen war.

      Er musste dafür seine Gründe gehabt haben, einer davon war sicherlich, dass wir spielen würden, und Sebastian hasst alle Spiele.

      Bis auf Pokern und Verstecken. Verstecken kann ich ja noch verstehen, denn er ist sehr klein, aber beim Pokern ist er noch nicht mal gut. Obwohl: Bluffen kann er. Er behauptet zum Beispiel schon sehr lange, dass er Schriftsteller ist. Und nicht klein.

      Ein anderer Grund war, dass er ein wichtiges Treffen hatte. Aber mit wem? Den anderen Zwergenfürsten?

      So saßen also Maik, Marc-Uwe, Boris und ich im ICE auf einem Vierer und spielten die extended version des hochkomplexen Brettspiels Zwergenwald. Wir hatten gerade das Spielfeld aufgebaut, da stand Marc-Uwe nach einem Blick auf die Uhr auf und sagte: »Ich muss noch was essen. Sonst bekomme ich Migräne.«

      »Migräne«, erwiderte ich, »ist ja in erster Linie Kopfsache!«

      Boris lachte.

      Maik schmierte sich unterdessen unentwegt mit Desinfektionsmittel ein.

      »Ich hatte erst letzte Woche Magen-Darm«, sagte er.

      Boris sagte: »Scheiße!«

      Ich lachte. Maik fand das gar nicht witzig.

      »Es ist gerade Grippewelle, hallo, wacht auf, Leute!«, sagte er und befeuchtete auch sein Gesicht und seine Zunge mit der antiseptischen Flüssigkeit.

      »Kann ich auch was davon haben?«, fragte ich. »Ich habe totale Angst davor, mich mit Hypochondrie anzustecken.«

      Ich sah aus dem Fenster und bemerkte, dass wir immer noch standen. Das hatte ich durch den etwa halbstündigen Aufbau des Spiels gar nicht mehr auf dem Schirm.

      »Wie lange stehen wir schon?«, fragte ich besorgt.

      »Seit wir losgefahren sind!«, antwortete Boris.

      Dann schrieb ich Sebastian eine SMS, dass mit unserer Ankunft frühestens eine Stunde vor Showbeginn zu rechnen wäre.

      »Oh nein!«, schrieb er zurück.

      »Oh doch«, antwortete ich.

      »Ich weiß gar nicht, was ich die ganze Zeit machen soll.«

      »Wir schon!«, schrieb ich. Also eigentlich wollte ich »Wird schon« schreiben, aber meine Autokorrektur ist manchmal ein bisschen bitchy.

      Marc-Uwe kam zurück, zufrieden kauend.

      Wir begannen mit dem Game. Ziel des Spiels war es, unter dem Zwergenwald einen Dungeon zu erforschen. Dafür musste abwechselnd gewürfelt, geschnickschnackschnuckt und armgedrückt werden. Darüber hinaus gab es bei bestimmten Karten Richtungswechsel, andere Karten sorgten dafür, dass wir uns alle umsetzen mussten. Und immer wenn mindestens zwei Sechsen gewürfelt wurden, wurde das Spielbrett auf die andere Seite gedreht.

      Oder wenn eine blaue Drei gewürfelt wurde. Oder ein Hackbraten. Ja, Hackbraten. Es war bekloppt.

      Außerdem mussten wir uns Zwergennamen geben.

      Maik hieß Maikrox Eisenfaust, Boris war Boris the Dwarf, ich wollte unter dem Namen Yulfred Steinspalter in die Annalen dieses Spiels eingehen und Marc-Uwes Zwergenname war Sebastian.

      Wenn die Spielanleitung diskutiert werden musste, wurde es immer laut im Abteil. Die anderen Fahrgäste hatten es längst aufgegeben, sich aufzuregen, sie beteiligten sich vielmehr rege am Geschehen.

      Einige aßen Kohlrabi … ich meine Popcorn. Popcorn! Verdammter Möhrenmann.

      Das Spiel tobte hin und her. Ich verstand in der Regel nicht, warum was wie gemacht wurde, und machte einfach mit. Dann kam es zum Tumult.

      Ich war dran mit Würfeln. Eine Sechs, vier Fünfen, eine Drei, ein Totenkopf, drei Hackbraten und den Elfenfürst.

      Um mich herum gab es einen Aufschrei. Ein Schwall Popcorn regnete mir in den Schoß.

      »Was ist passiert?«, wollte ich wissen.

      Die Leute um uns herum stöhnten auf.

      »Hast du das Spiel immer noch nicht verstanden?«, fragte Boris.

      »Ist doch ganz einfach, steht doch in den Regeln!«, sagte Marc-Uwe und begann, die Spielanleitung abzurollen.

      Er brauchte zwei Minuten, dann hatte er die richtige Stelle gefunden und zitierte: »Wenn vier Fünfen in Kombination mit drei Hackbraten und dem Elfenfürsten geworfen werden, muss der Spieler vier beliebige Ressourcen in den Vorrat zurücklegen, sich dafür zwei Gnadenmarker nehmen und zwei Plätze weiterrücken. Alle anderen Spieler ändern sowohl Rasse, Klasse als auch Geschlecht und müssen alle bisher errungenen Siegpunkte untereinander gerecht aufteilen, während gleichzeitig der Dämonennebel ausgelöst wird.«

      »Was war noch mal der Dämonennebel?«, fragte ich.

      »Das hatten wir doch vorhin!«, sagte das Mädchen hinter mir. »Ein Dämon aus Gas materialisiert sich im Dungeon und versucht, von dir Besitz zu ergreifen. Du kannst dies verhindern, indem du zwei deiner friedlichen Begleiter opferst, außer es handelt sich bei ihnen um die Katzenbabys, weil der Geist hat Allergie.«

      »Aber wir sind doch gar nicht im Dungeon, wir sind doch im Wald, dachte ich.«

      »Nein, Mann!«, rief nun das halbe Abteil. »Zeigt der blaue Würfel im Viererspiel eine Drei, muss umgehend der Spielplan gedreht werden.«

      »Sorry! Ich hab vorhin nicht aufgepasst. Ich weiß zwar nicht genau, wann, weil dieses fucking Spiel so unfassbar komplex ist. Außerdem muss ich ja auch noch ständig mit Sebastian kommunizieren.«

      »Stimmt, der ist ja im Kerker«, rief der Mann am Vierer neben uns.

      »Nicht Marc-Uwe-Sebastian, der richtige Sebastian«, knurrte ich ungeduldig.

      »Außerdem bin ich gar nicht mehr im Kerker«, sagte Marc-Uwe. »Ich hab doch im letzten Spielzug einen Schleudertroll beschworen.«

      »Korrekt! Deswegen sitze ich ja auch jetzt hier«, sagte Maik von unter dem Tisch und fügte an: »Oh, wir haben vergessen, die Flasche zu drehen.«

      »Aber gegen den Uhrzeigersinn!«, hörte ich die alte Frau sagen, die es sich bereits vor einer Weile in der Gepäckablage über uns bequem gemacht hatte, um einen besseren Überblick zu haben.

      »Stimmt!«, gab Marc-Uwe ihr recht. »Ist aber egal, weil ich das Spiel jetzt eh beende.«

      »Wie willst du das schaffen?«, fragte Boris. »Die Kuh ist tot und es gibt nur noch exakt drei Heiltränke.«

      »Außerdem bin ich vorher dran«, drang Maiks dumpfe Stimme von unten herauf.

      »Und einer der Hackbraten ist medium rare«, gab der Schaffner zu bedenken.

      Ich schaute völlig verwirrt in die Runde, dann aufs Spielbrett, dann in die Regeln.

      »Das denkt ihr euch doch alles aus!«, rief ich.

      »Dürfen wir ja auch. Steht hier!«, sagte Marc-Uwe und zeigte auf Regel 103. Und es stimmte leider. In der Spielanleitung stand: »Alle dürfen Regeln erfinden, außer Julius Fischer.« What are the odds, Alter? Darüber wird dann im Zwergenrat abgestimmt. Der begann nun zu tagen. Alle diskutierten wild durcheinander. Dass der Zug