Ich hasse Menschen. Eine Abschweifung. Julius Fischer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Julius Fischer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783863912109
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Die entweder drängeln oder mich nicht durchlassen. Ich geb doch schon Lichthupe. Aaaah.

      In New York bin ich auch Auto gefahren. Mit meiner Family. Ich habe kein einziges Mal geschrien. Ich habe mich noch nicht mal aufgeregt. Es ist ein anderer Stil. Wenn man dort an eine Kreuzung ohne Ampel kommt und da steht noch ein anderes Auto, dann guckt man sich an und stimmt sich ab, wer als Erstes fährt. In Deutschland undenkbar. Da würde jeder zuerst fahren. Vor allem ich.

      Nur ja dem anderen nichts gönnen. Immer stur geradeaus.

      Schon Rousseau sagte einst: Reise in ein anderes Land mit dem Zug, und du lernst es kennen, reise mit dem Auto und du lernst es hassen. Also nicht Jean-Jacques Rosseau, sondern Enrico Rousseau, ein sächsischer Philosoph.

      Er ist eigentlich kein Philosoph. Er ist ein Typ, den ich noch aus Schulzeiten kenne. Eigentlich heißt er auch nicht Rousseau, sondern Rößner.

      Weil er in der zehnten Klasse sitzen geblieben war, hatten wir uns aus den Augen verloren. Eines Tages traf ich ihn am Dresdner Hauptbahnhof wieder. Ich treffe sehr viele Leute an Bahnhöfen. Auf der einen Seite ist das sehr praktisch, weil ich mich so selten verabreden muss. Auf der anderen Seite ist das sehr traurig, weil es zeigt, dass ich neben dem Auftreten offenbar kein Leben habe.

      Es muss so gegen 2004 gewesen sein, kurz nachdem ich angefangen hatte, meine Texte auf Bühnen vorzulesen.

      Um mich herum am Dresdner Hauptbahnhof standen ganz viele nervige Fußballfans. Von Dynamo. Ist aber eigentlich auch egal welcher Verein, Fußballfans sind wie Wurzelbehandlungen. Immer unangenehm.

      »Ey, Dschalljes, Dschalljes Fischer?«

      Ich spürte eine schwere Hand auf meiner Schulter und drehte mich um. Vor mir hatte sich ein etwa zwei Meter großer Typ mit gelber Schminke im Gesicht und einem abgebrochenen Schneidezahn aufgebaut.

      »Enni?«, fragte ich.

      »Für dich immer noch Enriggo, Aldr!«

      »Krass, was machst du denn hier?«

      »Das könntsch dich ooch fragen.«

      Ich umarmte ihn. Er schubste mich weg.

      »Ey, ich bin keen Homo!«

      »Schuldige, wie begrüßt du denn Leute, die du lange nicht gesehen hast?«

      Er boxte mir an die Schulter. Sehr hart.

      »Bist du immer noch Dynamo-Hooligan?«, fragte ich, während ich mir die schmerzende Stelle rieb.

      »Ich bin Ultra! Das is was ganz anderes!«

      »Wie isses denn heute ausgegangen?«

      »Vier null verloren!«, entgegnete Enrico und schluchzte ein bisschen.

      »Ach, und da prügelst du dich nicht?«

      »Hab ich schon«, sagte er und deutete auf den abgebrochenen Schneidezahn. »Hier, ma was andres? Hast du zufällig Bier?«

      Zufällig hatte ich Bier. Wenn ich mal Zeit habe, sollte ich darüber nachdenken, ob das ein gutes Zeichen ist.

      »Danke, Aldr!«, sagte er und nahm einen Schluck. Dann stieß er ausgiebig auf. Seine Stimmung verbesserte sich schlagartig.

      »Weeßte noch früher in der Pause, wo du immer gerülpst hast, Aldr?«, fragte er glucksend. »Zum Beispiel: ›Tschuldigung, dass ich immer rülpse?‹ Mach ma, kannste das noch? Mach ma, Dschalljes!«

      »Nee, das ist mir unangenehm. Ich habe mich weiterentwickelt.«

      »Wiesou?«

      »Ich mache jetzt Lesungen.«

      »Was machst du?«

      »Ich lese lustige Texte vor. Mit Publikum.«

      »Also Comedy?«

      »Nee, na ja, also wie gesagt, ich lese vor.«

      »Und deswegen kannst du ni rülpsen? Verstehschni! Was machst du denn bei den Lesungen?«

      Ich überlegte.

      »Na ja, also ich habe zum Beispiel ein kurzes Gedicht über Ironie. Ironie kennste?«

      »Näj!«

      »War das ironisch?«

      »Näj!«

      »Gut, also mein Gedicht über Ironie: Warum waschen manche Punks ihren Iro nie?«

      Enrico guckte mich lange an.

      »Also keene Comedy!«, sagte er schließlich.

      »Haha.«

      »Weeßt du eigentlich, dass ich dich früher immer verkloppen wollte?«

      »Echt? Wieso?«

      »Na ja, weeßschni? Du warst so een Klugscheißer. Das hat mich produziert …«

      »Provoziert.«

      »Siehste. Schonne wieder. Hass!«

      »Und jetzt? Willste mich immer noch verkloppen?«

      »Näj, ich hab mich weiterentwickelt.«

      Ich muss lachen. Ich sollte Enrico mal wieder anrufen. Ein spitzer Finger pikt mir in die Schulter.

      »Hallo! Hallo!«

      Der Schaffner schaut mich an. Der Möhrenmann auch. Angst und Unverständnis in ihren hohlen Gesichtern. Haben die noch nie jemanden einfach so lachen sehen?

      »Ihre Fahrkarte bitte.«

      Fuck you, fuck you, fuck you, denke ich und sage: »Sehr gern.«

      Auf einmal kommt der Zug zum Stehen. Sehr abrupt. Alles rumpelt umher, Koffer fliegen durchs Abteil. Mein Rechner fällt mir in den Schoß, der Möhrenmann, der in Fahrtrichtung sitzt, schlägt mit dem Kopf auf dem Tisch auf. Der Schaffner, dem der heftige Ruck nichts auszumachen scheint, wirft einen kurzen Blick auf uns, der sagen soll: »Ihr Unwürdigen, ihr Nichtse. Das ist ein Zug, hier wirken andere Kräfte als in euren jämmerlichen Leben. Mit dieser Körperbeherrschung solltet ihr nicht mal auf die Straße gehen, es könnte ein Blatt vom Baume wehen und euch in zwei Teile spalten.«

      So zumindest interpretiere ich diesen Blick. Ich habe mir angewöhnt, davon auszugehen, dass die Leute immer nur das Schlechteste von einem denken.

      Der Schaffner verlässt das Abteil, ohne meine Fahrkarte kontrolliert zu haben.

      Mein Gegenüber und ich schaffen Ordnung, verstauen die Koffer und schweigen.

      Als wir wieder sitzen, öffnet er seinen Rucksack und holt eine Tupperdose heraus. Ich rieche Graubrot und Leberwurst. Dazu Kohlrabi.

      Ich schließe die Augen.

      Ich denke mich einfach an einen schönen Ort. Hmmm, die Ostsee. Ich liebe die Ostsee. Auf jeden Fall mehr als die Nordsee.

      Was ist das überhaupt für ein Meer? Das eigentlich nur die halbe Zeit da ist? Ohne Scheiß, als Scheidungskind habe ich genug Erfahrungen mit Vätern gesammelt, die nicht da waren. Wozu brauche ich dann ein Meer, was mir das immer wieder spiegelt? Im Gegensatz zu den Vätern kommt die Nordsee wenigstens zurück.

      An der Ostsee war ich immer mit meiner Mutter. Morgens stiegen wir aufs Fahrrad, fuhren eine halbe Stunde durch den Wald und waren an einem perfekten Strand. Keine anderen Menschen, viel Holz zum Hüttebauen, manchmal sogar Bernsteine. Und mittags gab es immer Snacks. Zum Beispiel Kohlrabi.

      Warum muss ich an Kohlrabi denken? Ich öffne die Augen. Der Typ macht mich fertig. Nicht nur der Mund, nein, das komplette Gesicht ist ausschließlich mit der Vertilgung des Kohlrabi beschäftigt.

      Wie soll ich mich denn da an einen schönen Ort denken?

      Ich habe einen Kumpel, der kann sich auch nur auf Dinge konzentrieren, die da sind, sprich: Ihm fehlt das Abstraktionsvermögen. Schwierig. Vor allem, wenn wir versuchen, zu arbeiten. Also wenn wir versuchen, einen Liedtext zu schreiben. Ich frage ihn dann meistens, worüber er gerne schreiben