Fielding Gray. Simon Raven. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Simon Raven
Издательство: Bookwire
Серия: Almosen fürs Vergessen
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783961600434
Скачать книгу
diese Zeit des Glücks zu verderben. Die unverklärte Erinnerung weiß, dass der Juni 1945 ein feuchtkalter, wolkenverhangener Monat war, aber eine andere Art von Gedächtnis kann sich nur an strahlend blaue Morgenhimmel und goldene Nachmittage erinnern.

      Ein solcher Morgen. Eine der ersten Stunden: Catull.

      »Vivamus, mea Lesbia, atque amemus«, tönte der Schulvorsteher, »Rumoresque senum severiorum / Omnes unius æstimemus assis … Also, zu den Übersetzungen dieser Verse, die ihr anfertigen solltet … Gray.«

      »Komm, Lesbia, lass uns lieben und leben

      Und nicht einen einzigen Penny nur geben

      auf Predigten mürrischer Greise zuhauf.

      Sonnen gehen unter und wieder auf:

      Doch wir, deren Lichter bald untergehen,

      können vom Schlaf ew’ger Nacht nicht erstehen.

      Gib tausend Küsse mir, gib alle sie her,

      Und dann einhundert, und dann tausend mehr …«

      »Danke, das soll erst mal reichen. Ich denke mal, dass Sie diese Einstellung teilen?«

      »Ja, Sir.«

      »Das tue ich, mit einigen Einschränkungen, auch. Das Gedicht führt uns knapp und kompromisslos die Grundgedanken des heidnischen Weltbildes vor Augen. Eine würdevolle und zugleich auch melancholisch vorgebrachte Akzeptanz der Auslöschung, die unser Tod mit sich bringen wird, verbunden mit der uneingeschränkten Begrüßung derjenigen Genüsse, mit de­nen man sich trösten kann.«

      »Und die Einschränkungen, die Sie machen würden, Sir? Braucht es denn welche?«

      »Ja. Catull war etwa fünfzig Jahre vor Christi Geburt schon tot und begraben. Das Christentum trägt uns eine andere Ethik an.«

      Ah.

      »Man muss … nicht zwingend … die christliche Ethik akzeptieren, Sir. Viele berühmte Persönlichkeiten haben sie in den letzten zweitausend Jahren abgelehnt.«

      »Diese Schule jedoch, Gray« – trocken und nicht unfreundlich – »akzeptiert sie ausdrücklich. Das Christentum hat hier die Billigung von höchster Stelle. Einzelne Individuen mögen sich ihre eigenen Gedanken machen, aber sie müssen dennoch mit den offiziellen Ideen konform gehen. Es ist eine Frage des Zugehörigkeitsgefühls.«

      »Und wenn diese Zugehörigkeit auf etwas fußt, das zweifelhaft oder unwahr ist, Sir?«

      »Es wird nur Konformität von Ihnen erwartet. Kein Glaube.«

      Unruhe machte sich unter den anderen Primanern breit, da sie Häresie in den höchsten Kreisen witterten.

      »Aber warum sich anpassen, wenn man an etwas gar nicht glaubt?«, beharrte ich.

      »Es ist, wenn man diese Einrichtung hier leitet, oder jegliche Einrichtung überhaupt, der Sache zuträglich, dies ausgehend von bestimmten Grundvoraussetzungen zu tun. Eine Grundvoraussetzung hier ist, wie unser Gründer betont hat, dass Christus der Sohn Gottes war und dass folglich die Moralvorstellungen, die er gepredigt hat, bindend sind. Das ist das Grundverständnis, nach dem die Schule geführt wird. Wir können Sie nicht zwingen, daran zu glauben, und in der Tat würden viele von uns das lieber sein lassen, aber wir können und müssen Sie zwingen, danach zu handeln. Andernfalls würde unser ganzes empfindliches Gefüge sich auflösen. Um in unserem Sinne zu handeln, Gray, sollten Sie sich also benehmen – nicht, als würde Ihnen einmal die ewig währende Nacht bevorstehen, sondern als hätten Sie eine unsterbliche Seele, die Sie nicht aufs Spiel setzen wollen, indem Sie Lesbia mit Küssen überhäufen. Es sei denn, natürlich, Sie wären so gut und würden sie vorher heiraten.«

      Und was, wenn ich mit meinen Küssen Christopher überhäufen wollte? Eins war, nach allem, was ich gelesen hatte, sicher: Catull (»etwa fünfzig Jahre vor Christi Geburt schon tot und begraben«) hätte keine Einwände gehabt.

      Und ein solcher Nachmittag. Mit Christopher beim Squash. Squash wurde im Sommer wenig gespielt, daher waren wir für uns. Nach dem Spiel eine kalte Dusche. Christopher, der unter seiner Dusche (die Tropfen schimmernd in den weichen hellen Haaren an seinen Beinen) seinen Körper von oben bis unten zur Schau stellt. Der junge Bacchus … nein, der junge Apollo. Herrgott, wie schön.

      Christopher, der die Dusche dann aber auch verlässt, sobald sie ihre Schuldigkeit getan hat. Christopher, der sich abtrocknet, ohne unnötige Eile, das schon, aber auch ohne es in die Länge zu ziehen. Christopher, wieder angezogen. Die Sonne sengt durch das Oberlicht auf uns herunter.

      »Hier drin ist es wie in einem Ofen. Gehen wir.«

      »Christopher …«

      »Wir kommen zu spät zum Abendessen. Gehen wir.«

      Aber als wir den Hügel hochliefen, hakte er sich bei mir ein, ließ seine Hand an meinem Arm hinabgleiten, um für ein paar Schritte meine Hand zu halten, und legte sie dann wieder zurück in meine Armbeuge.

      »Christopher … Als du noch Latein gelernt hast, seid ihr da bis zu Catull gekommen?«

      »Nein, Fielding.«

      »Weißt du, über was er geschrieben hat?«

      »Nein.«

      »Leidenschaft.«

      Christopher blickte erstaunt drein.

      »Ein versauter Haufen, diese Römer«, sagte er schließlich.

      Nein, es war keine gute Idee, das, was ich ihm mitteilen wollte, in Worte zu fassen. Dieses schöne, unwissende Kind würde sie niemals verstehen, es sei denn, man würde in den schlichten, kruden Worten sprechen, die ihm bekannt waren, Worte, die zu benutzen ich weder den Wunsch noch den Mut hatte. Also drückte ich seine Hand in meiner Ellenbeuge, und er erwiderte den Druck. Hand an Arm auf dem Heimweg von den Squashplätzen – die karge, verdruckste Sprache unserer Liebe.

      »Liebe?«, sagte Somerset Lloyd-James, als wir ein paar Tage später den Fluss entlangliefen. »Das hätte ich mir denken können, dass wir nicht durch den Sommer kommen, ohne dass dieser Unsinn plötzlich auftaucht.«

      »Ich habe nicht gesagt, dass ich in irgendwen verliebt wäre«, sagte ich. »Ich hab euch bloß gefragt, wie ihr theoretisch dazu steht.«

      »Du musst zunächst mal unterscheiden zwischen mehreren Befindlichkeiten, die alle leichtfertig so genannt werden. Worüber willst du was wissen: Verlangen, Zuneigung, Nächstenliebe, Leidenschaft oder das Vernarrtsein in jemanden?«

      »Somerset übt sich im Expertentum«, sagte Peter Morrison.

      »Gut«, beharrte ich, »glaubst du zuerst einmal an den Zustand, der als ›Verliebtsein‹ bekannt ist?«

      »Das«, sagte Somerset umgehend, »läuft unter Vernarrtsein.«

      »Und das heißt?«

      »Eine oberflächliche körperliche Anziehung, die bewusst ihre Trivialität mittels romantischer Verbrämung vielfach verhüllt.«

      »Und wie«, fragte Peter, »entsteht diese … vielfache romantische Verbrämung?«

      »Die Verliebtheit ergreift von allem Besitz, das sich in Reichweite befindet und sich für poetische Konnotationen eignet. Sagen wir mal von einem Sonnenuntergang oder einer Flasche Wein. Von Ersterem will sie sich die Pracht aneignen, von Letzterer die legendäre Tradition, die diese mit sich bringt. Ein Kuss bei Sonnenuntergang erhält den Segen des scheidenden Apollo; ein Gekichere bei billigem Sherry wird mit der Wildheit und Schönheit des jungen Bacchus in eins gesetzt.

      »Somerset scheint sich gut damit auszukennen«, sagte Peter. »Ich frage mich, ob er wohl selbst schon mal verliebt war.«

      »Natürlich nicht«, sagte Somerset ungerührt. »Dafür bin ich ein viel zu nüchterner Geist.«

      Wir kamen am alten Frank vorbei, dem früheren Cricket-Profi, der mit einem seiner Kumpel dasaß und angelte. Auf unseren Gruß hin wies er auf den Schwimmer und zuckte mit den