Die „Einheit“ mit der Natur – Das symbiotische Bewusstsein
Die Anfänge liegen im Dunkeln, in der Dunkelheit des Mutterleibes. Der Mutterleib war die Erde, die Natur, in die noch kein Licht fiel. Die Abwesenheit von Licht war die Abwesenheit von Bewusstsein. Der Mensch existierte, aber er wusste noch nicht, dass er existierte. Er war schon, aber er wusste es noch nicht. Er wusste es so wenig wie ein Embryo oder ein Tier es weiß. Er und seine Welt waren eins. Er bewegte sich in ihr, konnte sie riechen und schmecken und hören und sehen, aber er wusste nicht, dass das, was er wahrnahm, seine Umwelt, seine Welt war, die Welt, in der er lebte, und er wusste auch noch nicht, dass er ein Mensch war. Oder war er noch gar kein Mensch?
Mythos und Wirklichkeit
Die in der frühen Kindheit der Menschheit entstandenen Mythen nennen diese Zeit die „Traumzeit“ oder den „Garten Eden“ oder das „Paradies“. Es war die Zeit vor der Zeit, die Zeit vor der Geburt des Menschen, die Zeit, als er noch nicht um sich wusste und damit als Mensch noch nicht geboren war oder, wie der Säugling, geistig noch ganz in der ursprünglichen Einheit mit der Natur lebte. Das ist die ursprüngliche Harmonie, von der uns die Geschichte vom Paradies erzählt, der paradiesische Urzustand.
Das Paradiesische ist die Dunkelheit, das Nicht-Wissen, die Einheit und die Geborgenheit im Schoß der Erde. Dies darf man aber nicht mit unseren Vorstellungen von Geborgenheit und Harmonie verwechseln. Denn diese Geborgenheit und Einheit bedeutete gleichzeitig das totale Ausgeliefertsein an die Erde und die Natur, eben so, wie auch ein wildes Tier der Natur, der umgebenden wie seiner eigenen, vollkommen ausgeliefert ist. Und auch so, wie ein Embryo seiner Umgebung, der Mutter, vollkommen ausgeliefert ist. Und wie der Embryo die Mutter nicht kennt, obwohl sie sein Ein und Alles ist, kennt auch der paradiesische Mensch die Welt, die Erde und die Natur, nicht, die zugleich sein Ein und Alles ist. In der Frühphase der Menschheit gibt es, wie beim ungeborenen Kind und beim Säugling, kein persönliches Bewusstsein, kein Gefühl eines Subjektes, das einer objektiven, von ihm getrennten Umwelt gegenübersteht. Der Urmensch lebt in Verschmelzung mit seiner Umwelt und der Gruppe, zu der er gehört. Ebenso wie der Fötus die Mutter nimmt er die Welt und die Gruppe um sich herum nicht als etwas anderes, von ihm klar Geschiedenes, wahr, und ohne sie ist er verloren und nicht lebensfähig.
Es gibt weder ein Ich noch eine Gruppe, beides ist im Bewusstsein eins, und es gibt auch keine Welt oder gar Um-Welt als etwas Getrenntes und Eigenes. Selbst zu sagen, der einzelne empfinde sich als Teil des Ganzen, wäre unzutreffend, da diese Aussage eine Unterscheidung zwischen dem Ganzen und seinen Teilen voraussetzt, die in dieser Stufe, ähnlich wie beim Fötus oder Säugling, noch nicht gegeben ist. Das Bewusstsein ist das einer Einheit, die von der Zweiheit noch nichts weiß. Dies gilt, über die „Geburt“ des Menschen hinaus, für alle frühen menschlichen Kulturen. Die Natur war göttlich, alles war beseelt, in allem zeigte sich ein Gott, und die Erde war die Mutter, mit der man in symbiotischer Einheit existierte. Selbst das Bild „Mutter“ für die Erde existiert in den Uranfängen noch nicht, denn es setzt schon die Trennung und den Verlust der Einheit und ein vages Gefühl von Zweiheit voraus.
Über die erste Stufe, um die es hier zunächst geht, wissen wir naturgemäß kaum etwas, ebenso wie wir keine bewusste Erinnerung an unsere Zeit im Mutterleib und die ersten zwei Lebensjahre haben. Was wir kennen, sind die überlieferten, in eine uns heute verständliche Sprache übertragenen Mythen verschiedener Völker, in denen diese ihren Ursprung (den Anfang der Menschheit, also quasi ihre Abstammung und ihre Geburt) imaginiert haben, die daraus entstandenen mythologischen Religionen und Rituale, deren Frühzeit man mit der Säuglingszeit vergleichen kann, sowie verschiedene Artefakte wie (Höhlen-) Zeichnungen, Statuen, sakrale Bauten oder geschnitzte Gebrauchsgegenstände, die zugleich sakralen Charakter hatten. Mit dem Auf kommen und den immer umfangreicheren Funden der Archäologie und zunehmend feineren Analysemethoden, besonders aber der Entdeckung zeitgenössischer Volksstämme, die abseits jeglicher Zivilisation noch in einer urzeitlich-mythologischen Welt leben, haben wir erst seit ganz kurzer Zeit begonnen, einige partielle Einblicke in diese hunderttausende von Jahren dauernde Frühzeit der Menschheit zu bekommen.
Seit Sigmund Freud vor etwa hundert Jahren das Unbewusste und dessen überragende Bedeutung für das menschliche Handeln entdeckt hat, fasziniert dies auch die Psychologie, soweit sie sich in der Nachfolge von Freud und, vor allen, Carl Gustav Jung sieht, haben wir es hier doch mit dem Unbewussten der Menschheit zu tun, aus dem sich die menschliche Seele erbaut hat und aus dem sich daher vielleicht wichtige Einsichten für das heutige Bewusstsein gewinnen lassen. So faszinierend und inspirierend manche daraus abgeleiteten Theorien sein mögen, so spekulativ erscheinen sie mir doch auch. Die überlieferten Mythen geben, zusammen mit anthropologischen Forschungen und archäologischen Funden, sicher eine Fülle von Hinweisen und partiellen Einblicken in diese Welt, aber deren Deutung ist ebenso vielfältig wie letztlich beliebig, und das liegt in der Natur der Sache.
Kürzlich habe ich im Internet eine Serie von Filmen entdeckt, die ein Chronist seit den 1950er Jahren über das gesellschaftliche Leben in meinem Heimatdorf gemacht hat. Das war in meiner Kindheit und Jugend, ich habe die Zeit bewusst erlebt, und es ist ein sehr überschaubares und kleines Dorf mit damals etwa tausend Einwohnern. Als ich mir die Filme anschaute, habe ich manches gesehen, das ich vergessen hatte, auch einige wenige Dinge, von denen ich gar nichts wusste, aber ich habe auch vieles vermisst, was mir in Erinnerung ist und für die damalige Zeit charakteristisch und damit zu deren vollem Verständnis wichtig erschien. Kurz gesagt: Die Filme geben nichts anderes wider als den Aspekt der Wirklichkeit, den dieser Chronist gesehen hat und der ihm aus irgendwelchen Gründen wichtig war (und auch davon nur den Bruchteil, den er mit der Kamera festgehalten hat, wenn er dazu Zeit hatte). Davon aufs Ganze, auf das Leben dieses Dorfes und das Bewusstsein seiner Bewohner zu schließen, würde völlig an der Wirklichkeit dieser Zeit vorbeigehen.
Genau das wird aber wahrscheinlich geschehen, wenn jemand in einigen hundert oder tausend Jahren diese Filme entdeckt, von größeren historischen Zeiträumen, wo die Menschen eine ganz andere Sprache sprechen (wenn sie überhaupt noch über Sprache kommunizieren) ganz zu schweigen. Er mag, wenn er gewissenhaft forscht, noch ein paar andere Quellen entdecken und das Mosaik ein bisschen erweitern, aber das Bewusstsein und die Wirklichkeit der 1950er und 1960er Jahre in Marmagen wird er nicht beschreiben. Wenn ich der Chronist gewesen wäre und diese Filme gemacht hätte, wäre etwas ganz anderes dabei herausgekommen, und wenn ich heute eine alternative Chronik aus meiner Erinnerung schreiben würde, käme wieder etwas anderes heraus, weil auch meine Erinnerung nur eine nachträgliche Rekonstruktion meiner tatsächlichen Jugend und natürlich auch, sofern sie dem tatsächlichen Geschehen entspräche, nur meine Sicht dieser Zeit wäre. Kurz gesagt: Aus den überlieferten Mythologien können wir herauslesen, was wir wollen, und unsere Deutungen sagen mehr über uns selbst als über die Wirklichkeit einer verschwundenen Zeit.
Ebenso wie dieser Dorfchronist erzählt uns der Mythos, soweit er überliefert und in Bildern, Statuen und anderen Gegenständen festgehalten ist, etwas über sich selbst und gibt uns einen sehr ausschnitthaften Blick auf etwas längst Vergangenes, das als Geschichte – und „Geschichte“ meint hier: als Erzählung – weiter wirkt und gewissermaßen lebendig bleibt. Darin liegt ihre Wirklichkeit. Man sollte sich aber hüten, daraus abzuleiten, was nun die tatsächliche (faktische) Wirklichkeit jener Zeit war.
Alles, was wir haben, sind Geschichten, die aus verschiedenen Perspektiven erzählt und aus wiederum anderen Perspektiven überliefert wurden und aus wiederum anderen Perspektiven heute gedeutet werden. Das gilt nicht nur für das mythologische Zeitalter, sondern für alles, was wir als „unsere Geschichte“ verstehen und erinnern, sei es das, was uns in Büchern über die Vergangenheit erzählt und in der Schule beigebracht wird, oder sei es das, was wir als unsere persönliche Geschichte (z. B. unsere Kindheit) im Gedächtnis haben.