Die Mutter kann zwar, anders als vor der Geburt, physisch und geistig von einer anderen Person ersetzt werden, aber nicht emotional. Die frühkindliche Seele empfindet jede längere Trennung von der Mutter als Todesbedrohung. Nur die ständige Präsenz der Mutter gibt dem Säugling die Sicherheit, die er braucht, um sich entspannt in die Offenheit der neuen Welt einzulassen. Je unsicherer der Kontakt zur Mutter ist, umso unsicherer kommt ihm die Welt vor (die Mutter ist ja seine Welt), und umso angespannter und ängstlicher wird er ihr – jetzt und später, oft sein ganzes Leben lang – begegnen. Diese Anspannung manifestiert sich auch im Körper. Wilhelm Reich hat sie den „Charakterpanzer“ genannt, eine chronische Verfestigung unserer Muskulatur, die aus einer lang andauernden Spannung resultiert, in die sich das Kind einst eingemauert hat, um sich zu schützen.
Zu dem, was die Abwesenheit der Mutter mit einem Kind machen kann, eine kleine Geschichte von einem alten Freund: In den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts gab seine erschöpfte Mutter ihn–er war zehn Monate alt – in eine Wochenkrippe und fuhr mit ihrem Mann in Urlaub. In der DDR war das üblich, die Kinder wurden professionell versorgt. Als sie ihren Jungen nach zwei Wochen wieder abholte, war sie entsetzt: er war nur noch ein apathisches Bündel. Der Arzt, zu dem sie ihn brachte, diagnostizierte eine schwere Ernährungsstörung mit Durchfall, Erbrechen und akuter Lebensgefahr und wollte das Kind ins Krankenhaus einweisen. Die Mutter aber spürte: Mein Kind braucht nichts dringender als mich, und sagte zum Arzt: „Sagen Sie mir einfach, was ich tun muss.“ Dreißiggrammweise fütterte sie ihr Kind wieder auf, mit selbstgemachtem Möhrenbrei. Das Kind überlebte.
Jedes Kind reagiert anders auf eine solche Situation, aber jedes nimmt davon etwas mit in sein späteres Leben. Was, kann man nicht vorhersagen. Aus dem Kind von damals ist ein stattlicher, immer fröhlicher und humorvoller Mann geworden, der sehr gerne und mit großem Genuss isst. Als er eine Zeitlang mit sehr wenig Geld auskommen musste, sagte er, wenn ich ihn fragte, ob er klarkommt, immer: „Es ist noch genug da, um satt zu werden.“ Er hat viele außerordentlich schwierige Situationen gut überstanden hat und ist daran gewachsen, hatte aber immer ein sehr ambivalentes Verhältnis zu Frauen. Er liebt sie und fühlte sich für die meiste Zeit seines Lebens zugleich unsicher mit ihnen, suchte ihre Nähe und hatte zugleich eine tiefe Angst vor zu viel Nähe.
Freiheit und Abhängigkeit
Nach der Geburt wird das Ineinandersein von Mutter und Kind abgelöst durch Beziehung, die Kommunion durch Kommunikation, und dies bedeutet Freiheit und Abhängigkeit, beides zugleich. Beide bilden gemeinsam ein Ganzes, eine Einheit, die das vorherige Ausgeliefertsein ablöst. Sie sind keine Gegensätze, sondern die beiden Pole einer Ganzheit. Die Geburt schenkt uns die körperliche Freiheit, insofern wir jetzt physisch ohne die Mutter existieren können, ihr Essen nicht mehr zugleich unser Essen ist und ihr Tod nicht mehr zugleich unser Tod; zugleich sind wir abhängig, weil wir nicht allein existieren können und uns jetzt bemerkbar machen müssen, wenn wir etwas brauchen oder wollen, und weil wir uns nicht nur irgendwie verständlich machen müssen, sondern, was noch viel wichtiger ist, auch verstanden werden müssen. Letzteres können wir aber nicht wirklich beeinflussen – wir können zwar schreien (und später sprechen), aber ob uns der andere (am Anfang die Mutter) versteht oder nicht, liegt nicht in unserer Hand.
Das Kind muss nun eine „Doppelstrategie“ entwickeln. Einerseits muss es, wie schon vor der Geburt, weiterhin alles daransetzen, seine Lebensgrundlage, die Mutter, zu erhalten; andererseits muss es nun aber auch für sich selbst sorgen, da ihm die Nahrung nicht mehr von selbst zufließt. Das Einfachste und Natürlichste ist, dass es schreit. Das brauchte es im Mutterleib nicht, und es konnte es auch nicht. Hier sehen wir zum ersten Mal die Ambivalenz der Freiheit. Es ist frei vom mütterlichen Organismus, es ist nicht mehr auf Gedeih und Verderb mit der Mutter vereint, und damit entsteht zugleich die (vorher nicht existierende) Notwendigkeit, seine Bedürfnisse zu äußern. Zunächst kann es nur schreien oder weinen, später wird es mehr und mehr die Sprache benutzen, wobei es das Schreien und Weinen aber immer noch als zusätzliche Möglichkeit in petto hat. Je nachdem, wie erfolgreich es vorher damit war, wird es diese Möglichkeit auch benutzen, wenn reden nicht hilft – zumindest die gesamte Kindheit hindurch, oft aber ein Leben lang. Wenn es seine Umgebung aber als unfreundlich oder fragil erlebt, wird es sich eher anpassen, klein machen und nur das Minimum einfordern, um der Mutter nicht zur Last zu fallen, denn das würde ja bedeuten, dass es sein Leben riskiert.
Hier macht ein Mensch Erfahrungen und entwickelt Verhaltensmuster, die sich sehr tief in seine Psyche eingraben, zu Automatismen werden, die er gar nicht bemerkt, und die uns auch im Erwachsenenalter noch entsprechend fühlen und handeln lassen30. Und auch dies ist den meisten Erwachsenen nicht bewusst. Sie meinen, das sei ihre Natur, dabei sind es nur automatische Gefühlsreflexe und erlernte Verhaltensweisen, die einst wichtig und mehr oder weniger erfolgreich waren. Sie dienten damals unserem Überleben, und unbewusst fühlen und handeln wir so, als ob sie dies ein Leben lang tun würden.
Wir sind aber nicht nur physisch abhängig, sondern auch geistig, denn ein Kind kann sich auch dann, wenn sein Körper gelernt hat, sich allein zu bewegen und allein zu essen, nicht allein in der Welt aufhalten und bewegen. Wir müssen auch geistig erst noch lernen, uns in die Welt hinein zu bewegen. Damit dies gelingt, müssen wir die Welt in uns aufnehmen, und das können wir nicht von allein. Dazu brauchen wir andere Menschen als Spiegel oder, allgemeiner gesprochen, als Resonanzkörper. Die Resonanz funktioniert umso besser, je ähnlicher andere mit uns sind. Am ähnlichsten sind dem Kind seine Eltern. In ihnen kann es sich selbst am besten gespiegelt sehen.
Vater und Mutter – Die biologischen Eltern und ihre Bedeutung
Warum braucht das Kind die Mutter, warum ist sie so wichtig? Nicht zur Versorgung, das kann auch jemand anders übernehmen. Es braucht sie, weil sie alles ist, was es kennt, alles, was von seiner vorherigen Welt noch da ist. Es braucht sie, um in der neuen Welt anzukommen und Vertrauen dahinein zu entwickeln, dass es auch in dieser unermesslichen Welt geborgen sein und sich damit entspannen kann. Ohne die Mutter ist das kaum möglich, denn nur in ihrer Gegenwart, im Hören ihrer Stimme, in der Wahrnehmung ihres Geruchs und im Fühlen ihres Körpers kommen die alte und die neue Welt zusammen. In der Mutter hat es überlebt, in der Regel ziemlich gut. Daher steht sie für Sicherheit und Versorgt sein. Nur im unmittelbaren, sinnlichen Kontakt mit ihr weiß das Kind, dass jemand da ist, der für es sorgt. Nur in diesem Wissen, im Spüren des mütterlichen Organismus, den es kennt, kann es sich entspannen. Ohne sie, ohne die direkte und sinnliche Erfahrung ihrer Nähe, wird es in ständiger Spannung, in einem ständigen inneren Überlebensstress bleiben. Sie ist die Brücke, sie war vorher da und ist jetzt noch (oder wieder) da, es kennt sie, kennt ihren Geruch, ihre Stimme, ihren Herzschlag, ihre Haut, und damit ist es nicht mutterseelenallein in der Welt.
Keine noch so liebende und wohlmeinende Person kann dies ersetzen, außer vielleicht ein wenig der Vater. Da es ihm genetisch eng verwandt ist, gibt es eine natürliche Resonanz zwischen dem Kind und seinem Vater, denn dem Organismus des Kindes ist der Vater nicht fremd, auch wenn es ihn vor der Geburt nicht mit seinen Sinnen wahrgenommen hat. Wenn er jedoch während der Schwangerschaft nah bei seiner Frau war, hat das Kind ihn gehört und kennt vage seine Stimme, und wenn die Eltern sich geliebt haben, hat es ihn und seine Verbindung mit der Mutter gespürt, vor allem – und dies dürfte sehr wichtig für die allerersten Eindrücke von Sexualität und damit auch für seine spätere Haltung dazu sein – die Art und Weise, wie er seine Frau sexuell berührt hat und, was wahrscheinlich noch wichtiger ist, wie sie dies aufgenommen hat. Das Kind hat dies ja unmittelbar körperlich mitbekommen, und zwar sowohl die Schwingung des Vaters als auch – über die hormonelle Verbindung sicherlich noch deutlich mehr – die der Mutter. Dazu gibt es zwar naturgemäß keine sicheren Erkenntnisse, aber nach allem, was ich über andere Einflüsse aus der vorgeburtlichen Zeit gesehen habe, gehe ich davon aus, dass die Haltung eines Menschen zu Männern und zum