Das Ziel ist also eine unverzerrte Wahrnehmung des Augenblickes. Mein Partner, mein ewig vertrauter Unbekannter, fordert mich auf, in jedem Augenblick wach und offen zu sein für das, was in ihm abläuft, ihm so zu begegnen, wie er im Augenblick ist, und sein Handeln als das zu sehen, wozu er in diesem Augenblick in der Lage ist. Und all das Lebendige und Verbindende dieser Augenblicke kann nicht eingeatmet werden, wenn das starre Korsett des Bildes unseren Brustkorb einengt.
Mit diesem Wissen werfen wir noch einen Blick auf die beiden obigen Beispiele. Wenn die Frau im ersten Beispiel nicht das Bild von ihrem Mann hätte, dass er unzuverlässig ist, dann würde sie, wenn er sich verspätet, mit Sorge um ihn reagieren und ihm entsprechend begegnen. Das Gleiche gilt auch für das zweite Beispiel: Wenn der Mann nicht das Bild in sich tragen würde, eine schwache Frau an seiner Seite zu haben, könnte er in dem Wunsch seiner Frau, unmittelbar nach dem Telefonat zu ihrer Freundin zu gehen, ihre liebevolle Grundhaltung und ihre Fürsorge sehen und nicht bloß die Unfähigkeit, „Nein“ zu sagen. Wie man sieht: Ohne Bilder, das heißt, ohne verzerrte Wahrnehmung des Partners und ohne die Last der Vergangenheit, laufen Beziehungen empathischer und lebendiger.
Zum Schluss eine Anregung für das Leben von einem unbelebten Objekt: Mein seelenloser Computer hat etwas Segensreiches, denn er besitzt eine Funktion, die mir die größte Freiheit erlaubt. Diese Funktion heißt „Reset“. Damit wird alles Nutzlose, Problematische und hoffnungslos Komplizierte, mit einem Wort: die unnötige Last der Vergangenheit, gelöscht und Platz für Neues geschaffen. Dieses Kapitel will darauf aufmerksam machen, dass jede Beziehung in jeder Phase über eine „Reset-Funktion“ mit der gleichen befreienden Wirkung verfügt, von der man immer wieder Gebrauch machen kann.
Fazit:
Aus einer biologischen und sozialen Notwendigkeit sind wir dazu prädestiniert, aus Menschen Bilder zu machen und mit diesen Bildern zu leben, weil dies das menschliche Zusammensein vereinfacht. Dennoch hat dieses Konzept seine Schattenseiten. Denn mit den Bildern schleppen wir die Vergangenheit mit und dadurch nehmen wir sowohl unseren Partner als auch seine Reaktionen verzerrt wahr.
Gänzlich unabhängig davon, wie lange deine Beziehung besteht und wie überzeugt du bist, dass du deinen Partner kennst: Sei dir gewiss, du hast ein Bild von ihm. Mag dieses Bild auch in vielen Aspekten und Facetten dem realen Menschen nahe kommen, dein Bild wird dennoch nie das sein, was der andere in seiner Ganzheit ist. Wenn man sich diese Tatsache bei jeder Auseinandersetzung bewusst macht, dann hat man die Möglichkeit, die Dinge realistischer zu sehen und mit der lebendigen und realen Präsenz der Gegenwart die Situationen zu meistern. Ohne starres Bild vom Partner bleibt man flexibel, wach und neugierig. Man begegnet ihm immer wieder neu, wird bereichert durch seine neuen Facetten, und so hält man die Beziehung in voller Lebendigkeit in Gang.
6.
Der Sonnenbrand auf der Seele
In den bisherigen Kapiteln haben wir uns mit den Themen auseinandergesetzt, welche die frühen Phasen einer Beziehung begleiten. Nun suchen wir die Quelle, die nicht nur die Ursache anfänglicher Irrtümer ist, sondern grundsätzlich allen Problemen und Irrtümern zugrunde liegt, die Beziehungen beeinträchtigen.
Dazu folgende Metapher: Aus einem Krug fließt das heraus, was sich darin befindet. Einmal heißt es „Das Leben ist ein Kampf!“, und einmal „Ich mache mir die Welt, wie sie mir gefällt“. Und wiederum ein andermal „Lieber eiskalt als verletzbar, denn jeder ist ersetzbar“, oder „Du bist mein sicherer Hafen und der Sinn meines Lebens“, und so weiter. Was aber sind nun diese Krüge, aus denen all das herausfließt?
Es sind Menschen mit unterschiedlichen Persönlichkeiten und daher mit unterschiedlichen Einstellungen zum Leben und zu Partnerschaften. Die obigen Zitate sind natürlich extreme Beispiele; in Wirklichkeit liegen wir alle irgendwo dazwischen. Wie dem auch sei, unsere Persönlichkeit schreibt das Drehbuch für all unsere Rollen – so auch das Drehbuch dafür, wie wir unsere Rolle als Partner spielen. Deshalb sind die Stärken beziehungsweise die Schwächen unserer Persönlichkeit die tragenden Säulen stabiler Beziehungen oder der Sumpf der scheiternden. Stell dir deine Persönlichkeit als eine lange Kette vor. Du weißt, dass jede Kette so stark ist wie ihr schwächstes Glied. Wenn ein Ereignis dein schwächstes Glied berührt, dann wirst du zu dem Sumpf, in dem die Beziehung zu versinken droht. Wenn es aber eines deiner starken Glieder berührt, bist du ein fruchtbarer Boden, auf dem Harmonie und Verbundenheit wachsen.
Um das nachvollziehen zu können, betrachten wir ein Ehepaar. Die Frau ist intelligent und liebevoll. Sie hat einen großen Freundeskreis, zu dem auch einige Kollegen und Kolleginnen gehören. Ihr Partner wittert aber fast hinter jedem Kontakt und jeder Bekanntschaft von ihr mehr als nur Freundschaft. Er kontrolliert seine Frau, verlangt Erklärungen darüber, mit welcher Absicht sie sich mit bestimmten Leuten getroffen hat, verbietet ihr den Kontakt zu diesem oder jenem. Das schwache Glied in der Kette seiner Persönlichkeit ist ein starker Selbstzweifel, der sich in Eifersucht äußert. Obwohl seine Eifersucht, also sein latenter Selbstzweifel, die Beziehung belastet, ist nach seiner Überzeugung nicht seine Sichtweise, sondern das Verhalten seiner Frau die Ursache der Beziehungsproblematik. Solche Fehldeutungen sind typische Beispiele dafür, wie das schwächste Glied der Persönlichkeit einen dunklen Schatten auf die Beziehung wirft und zuweilen all das Schöne und Lebendige in den Hintergrund drängt.
Andererseits ist dieser Ehemann in vielen weiteren Bereichen der Partnerschaft, zum Beispiel was finanzielle Belange angeht oder die Probleme und Belastungen durch ihre familiäre Herkunft, in vollem Ausmaß für seine Frau da und unterstützt sie. Diese Ereignisse berühren die starken Glieder seiner Persönlichkeit, die zum Beispiel in Hilfsbereitschaft, Empathie, Zuverlässigkeit und ähnlichen Wesensmerkmalen bestehen. In diesen Situationen wird er zum Ruhepol der Beziehung.
Nun haben wir einen Zugang dazu, dass nicht die Ereignisse allein, sondern auch unsere Persönlichkeit bestimmt, welchen Verlauf unsere Beziehungen nehmen.
Die konsequente Folge dieser Erkenntnisse ist – radikal und plakativ formuliert: Es gibt keine Beziehungsprobleme! Was man als Beziehungsproblem empfindet, das ist das Erleben des eigenen wunden Punktes in der Beziehung.
Ein Beispiel soll diese Art des Erlebens verdeutlichen. Es ist ein Genuss, wenn man gestreichelt oder massiert wird. Wenn aber jemand einen schlimmen Sonnenbrand hat, ist jede Berührung und Umarmung kein Genuss, sondern unangenehm und schmerzhaft. Weil wir die Ursache unserer Schmerzen, eben unseren Sonnenbrand, kennen, machen wir den, der uns berührt, nicht für unsere Schmerzen verantwortlich. Im übertragenen Sinne hat jeder von uns unvermeidbar irgendwo einen Sonnenbrand auf der Haut seiner Seele, eine Schwäche in der Persönlichkeit, eben einen wunden Punkt. In einer Beziehung berühren sich nicht nur die Körper, sondern auch die Seelen mit all ihren wunderbaren Facetten, aber auch mit ihrem Sonnenbrand. Und weil der Sonnenbrand auf der Haut unserer Seele weder für uns noch für andere sichtbar ist, fühlen wir zwar den Schmerz, machen aber den anderen, der unseren Sonnenbrand berührt, dafür verantwortlich – und diese von unserem Sonnenbrand herrührenden Schmerzen nehmen wir dann als Beziehungsprobleme wahr.
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