Die Kunst, Beziehungen in den Sand zu setzen. Mohsen Charifi. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Mohsen Charifi
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783864101656
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entsteht allmählich ein Misstrauen gegenüber Verliebtheit. Es schleicht sich eine Angst vor einem neuen Anfang, vor einer neuen Verliebtheit ein. Außerdem kann der Zauber der Verliebtheit auch zu dem Irrtum führen, man könne nur mit diesem Einen glücklich werden, mit der Folge, dass man bereit ist, Konflikte zu vermeiden, sich gefügig zu verhalten, und sich aus Angst vor einer Trennung in ein Ich hineinmanövriert, das man gar nicht ist. All die möglichen Schwächen des Selbstbildes bekommen durch das Gift der Verliebtheit eine Bestätigung und zusätzliche Nahrung.

      Da die Verliebtheit mit ihrer archaischen Wucht über die Verliebten hinwegrollt, gibt sie ihnen nicht die Möglichkeit, ihren Segen und ihren Fluch differenziert wahrzunehmen. Eine pragmatische und realistische Lösung, um das eine zu genießen, aber dem anderen nicht zu verfallen, liegt darin, die Zukunftsbrille abzulegen. Und damit umgeht man den zweiten Fehler, der aus dem Rausch der Verliebtheit entsteht.

      Zusammengefasst:

      So wie auf das Einatmen das Ausatmen folgt, so folgt auf den Traum der Verliebtheit das Erwachen in der Realität. Wenn der Vorhang der Verliebtheit fällt und das bunte Schauspiel der Verliebtheit vorüber ist, stehen sich zwei Menschen gegenüber, so wie sie wirklich sind, mit all ihren menschlichen Unzulänglichkeiten und Eigenarten. Menschen lernen einander kennen, wenn sie nicht mehr verliebt sind.

      In der Euphorie der Verliebtheit jedoch machen sich Verliebte Bilder voneinander, die wunderschön sind, und im reißenden Fluss dieser Schönheit planen sie. Es entstehen allmählich, aber unmerklich neue Gewohnheiten, Verhaltensmuster und Rituale, die sich zu Fakten verdichten. Und wenn die Fakten massiv und weitreichend geworden sind, bleiben einige Paare erst einmal zusammen, auch wenn die Verliebtheit vorbei ist. Doch nicht die Bilder, die Verliebte voneinander durch ihre Zukunftsbrille sehen, sondern nur Menschen, so wie sie wirklich sind, haben eine reelle Chance, aus ihrer Beziehung eine Bindung zu machen, eine harmonische Einheit für Jahre, Jahrzehnte und vielleicht für das ganze Leben. Wenn es der Frau und dem Mann – zwei Männern oder zwei Frauen – vor der Entzauberung ihrer Verliebtheit gelingt, aus ihrer Beziehung eine tiefe innere Bindung zu machen und sich so, wie sie sind, anzunehmen und zu bejahen, dann hat das Zusammensein eine erfüllende Basis. Denn das ist der Beginn des Liebens: „Die Frucht der Liebe reift, wenn die Blüte der Leidenschaft ihre Blätter verliert.“5

      Wenn man nun alle möglichen Nebenwirkungen des süßen Giftes, also der Verliebtheit, in einem Satz zusammenbringen wollte, hieße er: Verliebtheit und Realität sind Rivalen und die Macht des einen stellt die Existenz des anderen infrage. Was folgt nun daraus?

      Solange du verliebt bist, traue deinen Überzeugungen nicht, lass die Zukunft in Ruhe, plane sie nicht und schaffe keine Fakten. Mach dir stattdessen zum Geschenk, dich zu verlieben, ohne dich zu verlieren.

      5.

      Mein Bild von dir stammt aus meinem Farbkasten

      Die Euphorie, den anderen endlich gefunden zu haben, und das zauberhafte Gefühl der Verliebtheit sind die bunten Blüten des gerade Wurzel fassenden Pflänzchens, also der frischen Beziehung. Nach und nach aber stellt sich heraus, dass dieses Pflänzchen nicht nur Blüten, sondern auch Dornen hat. Deshalb wollen wir uns jetzt auch mit realen Beziehungen beschäftigen, die nicht nur friedliche und harmonische Augenblicke und sonnige Tage, sondern auch Konflikte und Enttäuschungen in sich tragen. Dabei sollen diejenigen Prozesse angeschaut werden, die schon in der Frühphase einer Beziehung ansetzen, ihren Verlauf beeinflussen und zuweilen sogar ihren Ausgang bestimmen. Ein uns bereits vertrautes Beispiel für solche Prozesse ist die Verliebtheit. Es gibt jedoch noch etwas, einen weiteren Prozess, der ebenso wie Verliebtheit von Anfang an die Beziehung prägt, der aber im Gegensatz dazu unterschwellig und gänzlich unbewusst abläuft. Hinzu kommt, dass Verliebtheit im Verlauf der Beziehung an Macht und Zauber verliert, während dieses Etwas an Wirkung und Dominanz gewinnt. Begeben wir uns nun auf die Suche nach diesem Etwas.

      Der Mensch ist ein Herdentier und ein soziales Wesen. In allen Bereichen seines Lebens ist er darauf angewiesen, mit anderen Menschen zu kommunizieren und zu kooperieren. In dieser ständigen Begegnung und diesem fortlaufenden Austausch mit anderen ist es als Überlebensstrategie in uns angelegt, so schnell wie möglich zu erkennen, wer einem nutzt und wer einem schadet – also wer Freund und wer Feind ist, entsprechend dem Beute-Jäger-Schema in der Tierwelt.

      Um das zu erreichen, machen wir uns Bilder von Menschen. Dieses Konzept basiert, wie bereits erwähnt, auf einem evolutionsbiologischen Prinzip, dessen Wirkung sich vom physischen Überleben bis hin zur sozialen Anpassung erstreckt und den Umgang mit Menschen erst ermöglicht. Diese Bilder gestalten wir, indem wir schon die ersten Signale, die andere senden, mit unserem Maßstab bewerten und entsprechend die ersten Striche unserer Bilder mit den Farben aus unserem Farbkasten ziehen. Es zeigt unsere Bewertung, ob wir fröhlich-bunte oder bedrohlich-dunkle Farben verwenden. Und damit unterscheiden wir unmittelbar zwischen Freund und Feind und können entsprechend handeln. Dass wir aus Menschen Bilder machen ist so essentiell, dass es in der Biologie als „biologisches Ökonomieprinzip“ bezeichnet wird.

      In weiteren Auseinandersetzungen verdichten sich schon in der Frühphase einer Beziehung die ersten Striche zu einem fertigen Bild, also zu einer relativ abgeschlossenen Auffassung, die man von dem anderen hat. Das ist der Beginn des verborgenen Irrtums von „Man kennt sich jetzt“.

      Wie alles andere im Leben hat aber auch das Konzept, aus Menschen Bilder zu machen und mit diesen Bildern zu leben, zwei Seiten: eine notwendige und nützliche, die bereits besprochen wurde, und eine destruktive Seite, die wir uns jetzt ansehen wollen. Das Bild vom anderen enthält nicht nur das, was wir an ihm als positiv empfinden, sondern ebenso das, was wir für negativ halten. Wir neigen dazu, in Konfliktsituationen die negativen Seiten dieses Bildes als Ursache der Konflikte zu sehen. Hierzu zwei Beispiele aus Beziehungen, die schon seit längerer Zeit existieren.

      Im ersten Beispiel ist der Mann zu Beginn der Beziehung einige Male zu spät zu Verabredungen erschienen oder hat sie kurzfristig abgesagt und einige Vereinbarungen konnte er nicht einhalten. Aus der Summe dieser Ereignisse macht sich seine Partnerin ein Bild von ihm, das ihm den Stempel „Er ist unzuverlässig“ aufdrückt. Dieses Bild bleibt und dient auch in Zukunft als Maßstab dessen, wie sie das Verhalten ihres Partners bewertet. Alle Situationen, in denen er unvermeidbar nicht pünktlich sein kann, weil er zum Beispiel durch einen Autounfall aufgehalten wird, ändern ihre Einstellung nicht. Die Bewertung bleibt: „Er ist unzuverlässig.“

      Im zweiten Beispiel hat ein Mann erlebt, dass seine Partnerin zwei Einladungen, die ihr überhaupt nicht passten, nicht abgesagt hat. Außerdem kaufte sie das Auto, das ihr Vater empfohlen hatte, und nicht das, welches sie selbst haben wollte. Und einen dreitägigen Urlaub, der lange geplant war, sagte sie ab, um einen Kollegen zu vertreten. Das Bild, das er sich nun von seiner Frau gemacht hat, ist: „Sie kann nicht Nein sagen, sich nicht wehren und setzt keine Grenzen. Sie ist schwach.“

      An einem gemütlichen Abend, als er sich mit seiner Frau einen spannenden Film anschaut, ruft eine ihrer Freundinnen an. Nach dem Telefonat sagt sie unmittelbar: „Ich muss zu ihr fahren!“ Der erste Gedanke des Mannes ist: „Typisch! Sie kann wieder nicht Nein sagen.“ Er ist wütend und enttäuscht, ohne sich auch nur eine Sekunde darüber Gedanken zu machen, warum seine Frau direkt zu ihrer Freundin fährt.

      Wie diese Beispiele zeigen, bestimmen die Bilder, die wir uns von anderen Menschen gemacht haben, unsere Wahrnehmung, Bewertung und unsere Erlebnisse –nicht aber die konkreten Ereignisse und der reale Mensch. Dadurch reagieren und handeln wir auf einer Basis, die wenig an der Wahrheit des Augenblickes und der Realität orientiert ist. Da ein Handeln, das in diesem Sinne nicht auf der Realität basiert, immer destruktive Folgen hat, wollen wir uns die Destruktivität dieses Handelns näher ansehen.

      Dass jeder Mensch anders ist als jeder andere, ist selbstverständlich und bekannt. Auch dass wir uns ein Bild vom anderen machen und es für den anderen halten, wissen wir jetzt. Aber dieses Wissen ist nur der Samen und noch nicht der Baum, dessen Frucht das Ziel dieses Kapitels ist. Diese Frucht ist die Blüte, die entsteht, wenn die Knospe der Zeit die umhüllenden Blätter der Vergangenheit abgeworfen hat. Wie entsteht nun die Blüte des Augenblickes aus der Knospe der Zeit?

      Irgendwelche