Die Kunst, Beziehungen in den Sand zu setzen. Mohsen Charifi. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Mohsen Charifi
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783864101656
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Hesse mit den Worten: „Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.“2 Dieser Zauber ist Verliebtheit, die mit ihrer magischen Anziehung verbindet und aus Begegnungen eine Beziehung macht. Verliebtheit ist aber nicht nur die Quelle von Verzauberung, Genuss und Leichtigkeit, sondern ihr Einfluss erstreckt sich auch über die Beziehung hinaus auf die Prozesse, die den Alltag und das Leben bestimmen. Verliebtheit berauscht und verzaubert, denn nicht umsonst gilt: Die Zeiten der Verliebtheit sind die schönsten Blätter im Tagebuch eines Menschen. Doch weit über das bewusste Erleben der Verliebtheit hinaus setzt sich Verliebtheit unbewusst aus mehreren Komponenten zusammen, die von evolutionärem, emotionalem und sozialem Charakter sind. Und aus dieser Quelle schöpft Verliebtheit ihre anfängliche magische Kraft. Was aber aus ihr wird, in was sie sich verwandelt, in eine durch Liebe geprägte Bindung, ein organisiertes Zusammenbleiben oder eine Trennung, hängt davon ab, was die Verliebten aus ihrer Verliebtheit machen.

      Der evolutionäre Anteil der Verliebtheit lässt sich am besten durch die folgende Analogie beschreiben: Warum hat die Natur die Blumen so erschaffen, dass sie Nektar erzeugen? Denn für ihr Überleben brauchen sie ihn nicht. Sie erzeugen ihn wegen der Bienen und dabei dachte die Natur an Fortpflanzung. Das erklärt auch die Liebesbeziehung zwischen Bienen und Blumen. Weil wir Menschen aber etwas schlauer sind als Bienen und Blumen, hat die Evolution einen viel stärkeren und wirkungsvolleren Nektar für die Menschen entwickelt – eben die Verliebtheit. So wie der Nektar die Arterhaltung der Blumen sichert, dient die Verliebtheit der Arterhaltung der Menschen. Das klingt sehr unromantisch, ist aber der Plan der Evolution und eine biologische Notwendigkeit.

      Damit die Verliebtheit auch ihrer biologischen Aufgabe gerecht wird, hat die Natur sie entsprechend ausgestattet mit der treibenden Kraft der Emotionen, welche die Seele beflügeln, die Vernunft jedoch einschränken. Mit der zauberhaften Schönheit der leiblichen Verschmelzung, den pochenden Herzen und der alles überflutenden Sehnsucht tritt die Verliebtheit ihren Siegesmarsch an und baut ihre dominierende Herrschaft über das Fühlen und Denken der Verliebten auf. Aber nicht der sinnliche Durst und die Begierde, die den Leib ergreifen, sind die eigentliche Quelle der Kraft und Verzauberung der Verliebtheit, sondern die Schwingungen der Seele, welche die körperliche Verschmelzung zu einer globalen Verschmelzung mit dem Geliebten und mit der ganzen Welt ausdehnen. Verliebte fühlen sich vereint und verbunden. Aus einem isolierten Ich und einem isolierten Du wird ein Wir-Gefühl, eine erlebte Einheit und ein empfundenes Ganzes, entschlossen, kraftvoll und enthusiastisch. Die Verzauberung durch die Verliebtheit verändert den Alltag und verzerrt die Realität; Verliebtheit schafft ihre eigene Wirklichkeit. Aus dem verführerischen Gemisch von zauberhaften Erlebnissen, schönen Träumen und der Überzeugung, dies sei ein ewiger Zustand, entsteht das, was mit dem einen Wort „Illusion“ zusammengefasst werden kann. Die Verliebten erleben das jedoch nicht als Illusion. Aus ihrer Hoffnung wird Gewissheit und aus ihren Träumen Pläne, ein Entwurf für die Zukunft. Das heißt, sie sehen das Leben durch eine Zukunftsbrille.

      Während die evolutionäre und die emotionale Komponente der Verliebtheit, wie wir gesehen haben, relativ leicht erfassbar sind, ist der Einfluss der sozialen Komponente komplex und weniger durchschaubar. Die Komplexität ergibt sich aus den vielfältigen und vielschichtigen Interaktionen verliebter Paare mit ihrem Umfeld. Jeder der beiden Partner hat seine eigenen Erwartungen und Bedürfnisse und ist dadurch zwangsläufig mit den Zwängen und Erwartungen aus seinem Umfeld konfrontiert. Und wenn sich beide näherkommen, dann stoßen diese gewaltigen Pakete, die sie mitbringen, aufeinander. Es liegt nahe, dass sie nicht unbedingt harmonisch ineinanderfließen werden. Durch die kraftvolle Euphorie der Verliebtheit und das empfundene Eins-Sein übergehen die Verliebten jedoch diese Disharmonien und empfinden die Zwänge der Realität als eine Herausforderung und deren Bewältigung als einen Triumph ihrer Liebe.

      Hinzu kommt, dass die Zukunftsbrille den Blick der Verliebten verengt und sie nicht den Menschen sehen, der geliebt wird, sondern das verzerrte Bild, das Verliebte aus ihm machen. Ein Bild, das die schöne Seite des Geliebten großflächig, bunt und strahlend und seine Schwächen als blasse Punkte erscheinen lässt. Aus einem Menschen wird eine Fiktion. Mit diesem Menschen an der Seite fühlen sich Verliebte sicher aufgehoben und der bunte Luftballon ihres Zusammenseins schwebt über den strahlenden Himmel eines sinnhaften und glücklichen Lebens für alle Ewigkeit.

      In der Psychopathologie gibt es eine Definition für Wahn, die dem Zustand der Verliebtheit sehr nahekommt: „eine unerschütterliche Überzeugung ohne ausreichende Begründung“.3 Auch mit den Worten von Erich Fromm: „Die Intensität der Vernarrtheit, dieses gegenseitigen ‚Verrücktseins‘ nach dem anderen sieht man als Beweis für die Intensität der Liebe.“4 Allein die Tatsache, dass Wahn und Verliebtheit ähnliche Züge haben, ist ein sicheres Indiz dafür, dass Verliebtheit die Quelle von Irrtümern ist. Und je größer der Irrtum, umso schwerwiegender sind auch die Folgen. Aber wo genau liegen die Irrtümer der Verliebtheit?

      Gerade das, was Verliebtheit so schön, faszinierend und ergreifend macht, ist gleichzeitig die Quelle dieser Irrtümer. Verliebtheit wirkt sozusagen wie ein süßes Gift. Mit dem Süßen nimmt man gleichzeitig auch das Giftige zu sich, denn das Süße und das Giftige sind zwei verschiedene Seiten ein und derselben Medaille. Das heißt, dass bei der obigen Beschreibung der schönen und zauberhaften Seite von Verliebtheit gleichzeitig auch das Giftige beschrieben wurde – aber nicht direkt und unmittelbar ersichtlich. So wie der Ruin und der Schaden, der durch Orkane und Überschwemmungen entsteht, erst sichtbar wird, wenn diese vorbei sind, kommen die Irrtümer der Verliebtheit erst dann zu ihrer vollen Geltung, wenn die Verliebtheit an Glanz und Verzauberung verliert.

      Diverse Schritte auf diesem Irrweg sollen durch folgende Beispiele verdeutlicht werden. Ein verliebtes Paar will viel Zeit miteinander verbringen. Das ist naheliegend und verständlich. In aller Regel suchen sie ein gemeinsames Nest und ziehen so schnell wie möglich zusammen. Oder sie gehen ein für ihre Verhältnisse großes Risiko ein und kaufen sich sogar ein Häuschen. Und um sich näher zu sein, ändern sie vielleicht auch ihren Arbeitsplatz. Im Zuge der Euphorie der Verliebtheit und der Überzeugung „Wir gehören zusammen“ entsteht auch der Wunsch nach gemeinsamen Kindern, den sie sich ebenfalls erfüllen. All diese oder ähnliche Entscheidungen, welche die Verliebten treffen, sind Folgen des Blickes durch die Zukunftsbrille.

      Diese Beispiele sollen die Beziehung zwischen der Zukunftsbrille und dem süßen Gift noch einmal verdeutlichen: Verliebte sehen ineinander den idealen Begleiter für einen idealen Lebensweg. Das führt dazu, dass Verliebte mit voller Überzeugung und von ganzem Herzen, aber bloß mit dem Bild von einem Menschen – ohne zu wissen, wie er wirklich ist – an einer rosigen Zukunft basteln und unerschütterlich mit diesem hoffnungsvollen Bild ihre Zukunft planen. Den Menschen aber, so wie er ist, nehmen sie erst wahr, nachdem die Verliebtheit verflogen ist, also ab den Augenblicken, wenn die Partner nicht mehr durch ihre rosarote Zukunftsbrille schauen. Deshalb verlieren nicht nur alle Vereinbarungen, die ausgesprochen wurden, sondern auch all die gedachten Ziele, Hoffnungen und Pläne, die in der Zeit der Verliebtheit entstanden sind, ihr Fundament und ihre Gültigkeit mit dem Vergehen der Verliebtheit – und das fast immer mit nachhaltigen Folgen.

      Es liegt nahe, dass die unermesslich hohen Ansprüche und Bedürfnisse der Verliebtheit einen ebenso unermesslich großen Raum und ebenso viel Zeit für ihre Befriedigung brauchen. Zwangsläufig hat man weniger Zeit für Freunde und vertraute Gewohnheiten, die sich im Laufe der Jahrzehnte herauskristallisiert haben. Ebenso gibt man einen Teil der notwendigen Selbständigkeit unmerklich ab. Und erst wenn die Verliebtheit vorbei ist, fordern all diese Versäumnisse und vernachlässigten Interessen ihren Tribut, denn die entstandenen Lücken sind nicht immer leicht zu füllen.

      Eine weitere negative Auswirkung, die Verliebtheit hinterlässt, betrifft das Selbstbild: Wenn man als Geliebter uneingeschränkt bejaht und angenommen wird, entsteht das Pseudo-Gefühl, etwas Besonderes zu sein, sozusagen ein geliehenes Selbstvertrauen. Das reale Selbstbild wird durch ein ideales, viel lebendigeres, bunteres und vollkommeneres Bild ersetzt. Das schmeichelt nicht nur, das macht auch süchtig. Nach dem Ende der Verliebtheit aber kehrt das alte Selbstbild, das einem nicht genügt hat, zurück – doch der Durst nach dem idealen Selbstbild bleibt. Und dieser Durst macht ungeduldig, mit der Folge, dass man vielleicht kopflos in die nächste Verliebtheit hineinrutscht. Eine weitere Variante ist: Wenn man noch verliebt von seinem Geliebten verlassen wird,