Auf die Mundwinkel zu achten ist nicht nur unserer Spezies eigen. Viele Säugetierarten ziehen ihre Mundwinkel zurück, wenn sie nervös sind, weshalb Ethologen diese Bewegung eine »Angstgrimasse« nennen. Bei manchen Spezies wird es im sozialen Kontext auch »unterwürfiges Grinsen« genannt, weil nur Individuen in untergeordneter Position es zeigen. Wie viele Tiere auch ziehen Menschen die Mundwinkel zurück, wenn sie Angst haben. Unsere Spezies drückt Angst auf der ganzen Welt mit zurückgezogenen Mundwinkeln, gerundeten Augen und erhobenen Augenbrauen aus (auf den Bildseiten finden Sie Beispiele dafür). Selbst menschliches Lächeln ist nicht immer unbedingt ein Ausdruck von Freude – so manches Lächeln hat mehr mit Nervosität als mit Glück zu tun. Ethologen nehmen an, dass unser Lächeln aus dem unterwürfigen Grinsen entstanden ist, mit dem die lächelnde Person demonstriert, dass sie keinerlei Angriffsabsichten hat.
Wie Sie auf den Fotos sehen können, bewegen auch Hunde ihre Mund- bzw. Lefzenwinkel und genau wie beim Menschen sagt uns die Richtung dieser Bewegung eine Menge über ihre Gefühle. Sowohl Hunde als auch Wölfe und Kojoten ziehen ihre Lefzenwinkel zurück, wenn sie unterwürfig, defensiv oder ängstlich sind. Selbst bei spielenden Hunden werden Sie bemerken, dass es meist der untere Hund ist, dessen Lefzenwinkel zurückgezogen sind. Das ist kein Zufall, sondern Ausdruck des inneren Gefühlszustandes. Der »Verteidiger« hat die Lefzenwinkel zurückgezogen, während derjenige Hund, der in diesem Spiel den »Angreifer« mimt, sie nach vorn zieht.
Auch wir Menschen ziehen unsere Mundwinkel nach vorn, wenn wir in die Offensive gehen. Die Mundwinkel eines ärgerlichen Menschen bewegen sich in die entgegengesetzte Richtung wie beim Lächeln, nämlich nach vorn in Richtung Gesichtsmitte anstatt in Richtung Ohren. Machen Sie einmal das Schmollgesicht eines trotzigen, bockigen Fünfjährigen, und Sie werden spüren, wie sich Ihr Mund schließt und sich Ihre Lippen nach vorn bewegen. Hunde tun etwas sehr Ähnliches, auch wenn ich nicht sagen würde, dass sie dabei immer ärgerlich sind. Allerdings verwette ich meinen Hof darauf, dass sie nicht ängstlich oder unterwürfig sind. Nach vorn gezogene Lefzenwinkel sind eines der besten mir bekannten Signale dafür, dass ein Hund bereit ist, in die Offensive zu gehen und es scheint nicht überraschend, dass dies mit unserer eigenen Version eines ärgerlichen Gesichtes übereinstimmt.
Schauen Sie sich einmal die Fotos an und achten Sie sowohl bei den Hunden als auch bei den Menschen auf den Unterschied zwischen nach vorn und nach hinten gezogenen Mundwinkeln. Wie so viele andere Dinge auch ist die Bewegung der Mundwinkel absolut offensichtlich, sobald Sie gelernt haben, darauf zu achten – aber Sie schenken ihr wenig Aufmerksamkeit, wenn Sie niemand darauf hingewiesen hat. Fangen Sie an, auf Ihren eigenen Hund zu achten und fragen Sie sich, in welche Richtung seine Lefzenwinkel in verschiedenen Situationen wahrscheinlich bewegt werden. Wenn er mit vorgezogenen Lefzenwinkeln in Richtung eines anderen Hundes losspringt, ist er ganz anderer Stimmung, als wenn er die Lefzenwinkel in einer Angstgrimasse zurückgezogen hätte. Möglicherweise bellt er in beiden Fällen und springt nach vorn, aber das Aussehen seiner Lefzen hilft Ihnen zu verstehen, wie er sich gerade dabei fühlt. Wenn ein Hund seine Lefzenwinkel nach vorn zieht, während ein Kind ihm sein Spielzeug abzunehmen versucht, gibt er damit zu verstehen, dass er bereit ist, sein vermeintliches Eigentum zu behaupten und notfalls unter Einsatz der Zähne zu verteidigen. Wenn er einen Gast mit zurückgezogenen Lefzenwinkeln anknurrt, könnte er Angst vor Fremden haben und braucht folglich Hilfe, um seine beim Klingeln an der Haustür aufkommende Angst zu überwinden.
Sie sehen also, wie hilfreich diese Signale der Gesichtsmimik dabei sind, einen Behandlungsplan für einen Hund aufzustellen, der nach Besuchern schnappt oder sich seinen Kauknochen nicht wegnehmen lässt. Wir werden später noch darüber sprechen, wie man Behandlungspläne passend zu den verschiedenen Gefühlszustän- den von Hunden auswählt, aber für den Moment konzentrieren Sie sich bitte einmal nur darauf, Feldforscher im eigenen Wohnzimmer zu spielen und hinsehen zu lernen, wie sich die Lefzen Ihres Hundes bewegen. Stellen Sie sich vor, dass eine Spezies der anderen »von den Lippen liest«.
LÄCHELN BITTE!
Hunde tun außerdem noch etwas, das für die einen aussieht wie ein menschliches Lächeln und für die anderen wie ein aggressives Zähnefletschen. »Lächelnde« Hunde ziehen ihre Oberlippe hoch, und zwar meistens so weit, dass die Haut oben auf dem Nasenrücken Falten wirft. Die nach oben gezogenen Lefzen legen die Zähne frei. Der Anblick einer Reihe blitzend weißer Zähne im Maul eines Raubtieres ist etwas, das bei Primaten wie uns auf jeden Fall eine emotionale Reaktion hervorruft – aber diese »lächelnden« Hunde scheinen keinerlei aggressiven Gedanken im Kopf zu haben. Die scharfen, blitzenden Zähne sind mit einem locker entspannten Körper, einem tief getragenen Kopf und den freundlich zwinkernden Augen eines Hundes kombiniert, der sich freut, Sie zu sehen. Am häufigsten sehen Sie dieses Lächeln, wenn Hunde Sie nach einer Zeit der Abwesenheit begrüßen oder wenn sie fremde Gäste im Haus begrüßen. Lächelnde Hunde sehen ein wenig lustig-dämlich aus, weil ihr gesamter Körper ab den Schultern rückwärts wedelt und sie den Kopf parallel zum Boden halten.
Dabei muss ich an einen Hausbesuch bei den Besitzern eines Golden Retrievers denken: Diese berichteten, der Hund sei in letzter Zeit zunehmend aggressiver gegenüber ihnen und Besuchern, obwohl er noch nicht geschnappt oder gar gebissen hätte. Ich wurde von einer schwanzklopfenden, von vorn bis hinten wedelnden kleinen Klette begrüßt, deren Lippen ein Eigenleben zu haben schienen, nach oben wanderten und die Zähne freilegten. Die Haltung dieses Hundes war das genaue Gegenteil von der Buddys, der mir zwar niemals die Zähne gezeigt hatte, aber steif und still mit kaltem Blick dastand, als ich das Haus betrat. Der Golden schmolz nur so dahin, als ich ins Haus kam – aber da waren diese Zähne, riesengroß, weiß und schimmernd, und das direkt vor meinem Gesicht. Verständlich, dass Besucher nicht genau wussten, was sie davon halten sollten. Was für ein Vergnügen, den Besitzern sagen zu können, dass ihr Golden genauso gefährlich sei wie ein Stofftier und dass diese Zähne mehr mit einem menschlichen Lächeln gemeinsam hatten als mit einem Warnsignal für Aggression. Wir wissen nicht genau, welches Gefühl ein »lächelnder« Hund ausdrückt, aber es scheint nichts mit Ärger oder angstbedingter Aggression zu tun zu haben. Eine plausible Annahme, im Moment auch meine Lieblingstheorie, ist, dass der Hund sich in ambivalentem Gefühlszustand befindet, wobei das vorherrschende Gefühl Unterwürfigkeit oder Zärtlichkeit sein könnte. Ich stelle es mir ungefähr so vor wie das leicht dümmliche, nervöse Grinsen eines schüchternen Jungen, der zum ersten Mal seine Verabredung trifft.
ZÜNGELN
Ein weiterer wichtiger Ausdruck der Gefühle Ihres Hundes ist das »Züngeln«, bei dem die Zunge ganz kurz gerade nach vorn ausgestreckt und sofort wieder zurückgezogen wird. Verwechseln Sie es nicht mit der zur Seite heraushängenden Zunge eines hungrigen, speichelnden Hundes, der sich auf sein Abendessen freut. Beim Züngeln wird die Zunge ein Stückchen weit gerade nach vorn aus dem Fang heraus bewegt und sofort wieder zurückgezogen. Diese kleinen Züngelbewegungen sind entweder ein Ausdruck für leichte Unsicherheit oder Beschwichtigungsgesten niederrangiger Hunde gegenüber höherrangigen. Wie weit die Zunge hervortritt, hat vermutlich mit der Intensität des Gefühls zu tun.17
Sobald Sie auf das Züngeln achten, werden Sie es praktisch überall sehen. Ihr Hund könnte züngeln, wenn Sie seine Pfote zum Krallenschneiden in die Hand nehmen oder wenn der dicke Brocken von Chesapeake Bay Retriever aus der Nachbarschaft zum Spielen herüberkommt. Ein Beispiel dafür können Sie auch auf einem Videoclip sehen, der überall im Internet zu finden ist (Suchbegriffe »Police dog bites reporter« eingeben, Anm. d. Übers.) Darin wird der Führer eines neu erworbenen Polizeihundes vom lokalen Reporter interviewt. Der Reporter hockt ein paar Zentimeter vom Hundegesicht entfernt auf dem Boden und legt seine Hände beiderseits um den Hundekopf, während er wieder aufzustehen beginnt. Der Hund hat seinen Fang fest geschlossen, und obwohl er weder knurrt noch seine Zähne zeigt, können erfahrene Hundehalter erkennen, dass er sich in dieser Situation nicht wohl fühlt. Dem Reporter sind diese Signale entgangen, aber er verstand vermutlich, was los war, als der Hund ihn geradewegs ins Gesicht biss – unmittelbar, nachdem seine Zunge als klares Zeichen für Angst kurz hervorgeschnellt war.
Oft sehe