»Nein, zumindest nicht oft, denn Miss Temple hat meist etwas zu sagen, das neuer und interessanter ist als meine eigenen Überlegungen. Ihr höre ich besonders gern zu, und oft erzählt sie genau das, was ich gerade wissen wollte.«
»Bei Miss Temple bist du also artig?«
»Ja, aber ohne mein Zutun. Ich gebe mir keine Mühe, sondern folge einfach meiner Neigung. Auf diese Weise artig zu sein ist kein Verdienst.«
»O doch! Denn wenn jemand gut zu dir ist, dann bist auch du artig und gut. Anders möchte ich gar nicht sein. Begegnete man grausamen und ungerechten Leuten stets freundlich und unterwürfig, so könnten diese bösen Menschen alles tun, was ihnen passt; sie hätten nichts zu fürchten und würden sich folglich nie ändern, sondern nur immer noch schlechter werden. Wenn uns jemand grundlos schlägt, sollten wir mit aller Kraft zurückschlagen, ja bestimmt, das sollten wir, und zwar so, dass es dem Betreffenden zur Lehre gereicht und er es nie wieder tut.«
»Du wirst hoffentlich deine Meinung ändern, wenn du älter wirst; jetzt bist du ja noch ein kleines, unwissendes Mädchen.«
»Aber ich empfinde es nun einmal so, Helen. Ich kann niemanden gernhaben, der sich weigert, seine Abneigung gegen mich aufzugeben, obwohl ich mir die größte Mühe gebe, es ihm recht zu machen; ich muss mich gegen die zur Wehr setzen, die mich zu Unrecht bestrafen. Das ist doch nur natürlich. Und genauso natürlich ist es, dass ich die Menschen liebe, die mir Zuneigung entgegenbringen, oder mich einer Bestrafung unterwerfe, wenn ich weiß, dass ich sie verdient habe.«
»Heiden und Angehörige primitiver Stämme leben nach solchen Grundsätzen; Christen und zivilisierte Völker aber lehnen sie ab.«
»Weshalb denn? Das verstehe ich nicht.«
»Gewalt ist nicht das beste Mittel, um Hass zu besiegen, und Rache macht gewiss kein Unrecht wieder gut.«
»Was denn dann?«
»Lies das Neue Testament und achte darauf, was Christus sagt und wie Er handelt. Lass dir Sein Wort Richtschnur sein und Sein Leben Beispiel.«
»Was sagt Er denn?«
»Liebet eure Feinde; segnet, die euch fluchen, tut Gutes denen, die euch hassen und euch verleumden.«
»Dann müsste ich ja Mrs. Reed lieben, und das kann ich nicht. Und ich müsste ihren Sohn John segnen, aber das ist mir unmöglich.«
Nun bat mich Helen Burns ihrerseits um eine Erklärung, und ich begann, auf meine Art die Geschichte meiner Leiden und meines Grolls hervorzusprudeln. Verbittert und trotzig, wie ich in erregtem Zustand nun einmal war, schilderte ich alles so, wie ich es empfand, ohne etwas wegzulassen oder zu beschönigen.
Helen hörte mich geduldig bis zum Ende an. Ich erwartete, dass sie etwas sagen würde, aber sie schwieg.
»Nun«, fragte ich ungeduldig, »ist Mrs. Reed nicht eine hartherzige, böse Frau?«
»Gewiss ist sie so lieblos zu dir gewesen, weil ihr dein Charakter ebenso missfällt wie Miss Scatcherd der meine, verstehst du? Aber wie genau du dich an alles erinnerst, was sie dir angetan und gesagt hat! Wie ungewöhnlich tief sich ihre Ungerechtigkeit offenbar in deinem Herzen eingeprägt hat! Keine noch so schlechte Behandlung vermag in mir solch unauslöschliche Spuren zu hinterlassen. Wärest du nicht glücklicher, wenn du versuchtest, ihre Strenge und Unerbittlichkeit und auch die leidenschaftliche Empörung, die sie in dir hervorriefen, zu vergessen? Das Leben scheint mir zu kurz, als dass man es damit verbringen sollte, feindselige Gefühle zu hegen oder über jedes erlittene Unrecht Protokoll zu führen. Wir sind alle, gar alle, mit Fehlern beladen, und so muss es in dieser Welt wohl sein. Aber ich bin sicher, bald wird die Zeit kommen, da wir sie zusammen mit unseren vergänglichen Leibern ablegen, da Verderbnis und Sünde zusammen mit dieser beschwerlichen fleischlichen Hülle von uns abfallen werden und nur der Funke des Geistes erhalten bleibt – jener unfassbare Ursprung des Lebens und Denkens, rein wie ehedem, als der Schöpfer ihn der Kreatur einhauchte. Woher er kam, dahin wird er auch zurückkehren, vielleicht, um in ein höheres Wesen, als der Mensch es ist, einzugehen, vielleicht, um die Stufen himmlischer Herrlichkeit zu durchschreiten, bis die blasse Menschenseele dereinst als leuchtender Seraph erstrahlen wird. Niemals aber wird zugelassen werden, dass er vom Menschen zum Teufel hinabsinkt. Nein, das kann ich einfach nicht glauben. Mein Glaube sagt mir etwas anderes, etwas, was mich niemand gelehrt hat und worüber ich nur selten spreche, was mich aber froh stimmt und woran ich festhalte, denn es birgt Hoffnung für alle. Mein Glaube macht die Ewigkeit zu einem Ort der Ruhe und des Friedens – zu einem großen Zuhause und nicht zu einem Abgrund des Schreckens. Außerdem kann ich mit diesem Glauben ganz klar zwischen dem Verbrecher und seinem Verbrechen unterscheiden, kann ich Ersterem aufrichtig vergeben, während ich Letzteres verabscheue; mit diesem Glauben sinnt mein Herz nie auf Rache, keine Erniedrigung kann mich allzu sehr empören, keine Ungerechtigkeit ganz zu Boden drücken. Ich lebe in Ruhe und erwarte das Ende.«
Helens ohnehin immer etwas gesenkter Kopf neigte sich noch ein wenig tiefer, als sie diesen Satz beendete. Ich sah ihr an, dass sie sich nicht länger mit mir unterhalten, sondern lieber ihren eigenen Gedanken nachhängen wollte. Man ließ ihr allerdings nicht viel Zeit dazu, denn eine der Klassenaufseherinnen, ein großes, ungeschlachtes Mädchen, kam gleich darauf auf sie zu und fuhr sie mit unüberhörbarem Cumberland-Akzent an:
»Helen Burns, wenn du nicht augenblicklich deine Schublade aufräumst und deine Näharbeit ordentlich zusammenlegst, sag ich Miss Scatcherd Bescheid, damit sie sich das ansieht.«
Helen seufzte, als sie aus ihrer Träumerei gerissen wurde, erhob sich und gehorchte der Aufseherin sofort und ohne Widerrede.
Kapitel 7
Mein erstes Vierteljahr in Lowood kam mir vor wie ein ganzes Zeitalter, und zwar keineswegs wie das Goldene. Ich führte einen beschwerlichen Kampf gegen die Schwierigkeiten, die es mir bereitete, mich an die neuen Regeln und ungewohnten Aufgaben zu gewöhnen. Die Angst, etwas falsch zu machen, quälte mich mehr als die körperlichen Entbehrungen und Härten, denen ich ausgesetzt war, obwohl auch diese nicht gerade gering waren.
Während des Januars, Februars und eines Teils des März hinderten uns zunächst der hohe Schnee und, als dieser weggetaut war, die nahezu unpassierbaren Wege daran, uns – vom Kirchgang abgesehen – außerhalb der Gartenmauern aufzuhalten; innerhalb dieser Grenzen aber mussten wir täglich eine Stunde im Freien zubringen. Unsere Kleidung vermochte uns nicht ausreichend gegen die strenge Kälte zu schützen. Wir hatten keine Stiefel, der Schnee drang in unsere Schuhe und schmolz dort; unsere bloßen Hände wurden starr und bekamen ebenso Frostbeulen wie unsere Füße. Ich erinnere mich noch gut an die fast unerträglichen Schmerzen, die ich deshalb allabendlich ertragen musste, wenn meine Füße sich entzündeten, und an die Tortur, meine geschwollenen, wunden und steifen Zehen am Morgen wieder in die Schuhe zu zwängen. Auch die karge Kost machte uns sehr zu schaffen: Wir hatten den gesunden Appetit heranwachsender Kinder und bekamen doch so wenig zu essen, dass man damit kaum einen schwächlichen Kranken hätte am Leben erhalten können. Die ungenügende Verpflegung führte zu einem Missstand, unter dem besonders die jüngeren Schülerinnen zu leiden hatten, denn die großen Mädchen nahmen jede Gelegenheit wahr, die Kleinen durch Schmeicheleien oder Drohungen dazu zu bringen, ihnen ihre Portionen zu überlassen. So manches Mal habe ich das kostbare Stückchen Schwarzbrot, das es zur Teezeit gab, an zwei ältere Schülerinnen abgetreten, und wenn ich dann noch einer dritten die Hälfte des Kaffees aus meinem Becher abgeben musste, trank ich den Rest unter verstohlen fortgewischten Tränen, die mir der quälende Hunger in die Augen trieb.
Die Sonntage waren in dieser winterlichen Jahreszeit besonders trübselig. Wir mussten zwei Meilen bis zur Kirche von Brocklebridge gehen, wo unser Gönner den Gottesdienst hielt. Uns war schon kalt, wenn wir uns auf den Weg machten, und noch kälter, wenn wir bei der Kirche ankamen; während des Morgengottesdienstes erstarrten wir dann beinahe vollends vor Kälte. Da es zu weit war, um zum Mittagessen zurückzukehren, wurde zwischen den Gottesdiensten ein Imbiss aus kaltem Fleisch und Brot