Jane Eyre. Eine Autobiografie. Charlotte Bronte. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Charlotte Bronte
Издательство: Bookwire
Серия: Reclam Taschenbuch
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783159617015
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Miss Temple, wäre ich jederzeit bereit, mir den Arm brechen oder mich von einem Stier durch die Luft wirbeln zu lassen oder mich hinter ein ausschlagendes Pferd zu stellen und mir von seinen Hufen die Brust zertrümmern zu lassen –«

      »Halt ein, Jane! Du misst der menschlichen Liebe zu große Bedeutung bei; du bist zu impulsiv, zu heftig. Die allmächtige Hand Gottes, die deinen Körper schuf und ihn zum Leben erweckte, hat dir ganz anderen Beistand an die Seite gestellt als dein schwaches Ich oder Geschöpfe, die ebenso schwach sind wie du. Außer dieser Welt, außer dem Menschengeschlecht gibt es eine unsichtbare Welt und ein Reich der Geister. Diese Welt umgibt uns, denn sie ist überall; und die Geister wachen über uns, sie haben den Auftrag, uns zu beschützen; und wenn wir in Schmerz und Schande stürben, wenn uns von allen Seiten Verachtung entgegenschlüge und Hass uns zu Boden drückte, dann sehen die Engel unsere Qualen und erkennen unsere Unschuld (wenn wir tatsächlich unschuldig sind, so wie ich weiß, dass die Beschuldigungen nicht zutreffen, die Mr. Brocklehurst wenig überzeugend und wichtigtuerisch gegen dich erhoben hat, indem er Mrs. Reeds Vorwürfe gegen dich einfach wiederholte, denn deine leuchtenden Augen und deine reine Stirn offenbaren mir dein aufrichtiges Wesen). Gott wartet nur auf die Trennung von Seele und Leib, um uns Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und uns reich zu belohnen. Warum also sollten wir uns je von Kummer überwältigen lassen, wo doch das Leben so rasch vorübergeht und der Tod ein so sicheres Tor zur ewigen Glückseligkeit, zur himmlischen Herrlichkeit ist?«

      Ich schwieg. Helen hatte mich besänftigt, doch in die Ruhe, die sie ausstrahlte, mischte sich gleichzeitig eine unsägliche Traurigkeit. Während sie sprach, fühlte ich eine schmerzliche Vorahnung in mir aufsteigen, konnte aber nicht sagen, weshalb; und als sie, sobald sie geendet hatte, etwas schneller zu atmen und stoßweise zu husten begann, vergaß ich über der unbestimmten Sorge, die mich ihretwegen ergriff, für den Augenblick meinen eigenen Kummer.

      Ich lehnte den Kopf an Helens Schulter und legte den Arm um ihre Taille; sie zog mich fester an sich, und so verharrten wir schweigend. Wir hatten noch nicht lange so dagesessen, als jemand den Raum betrat. Draußen hatte der stärker werdende Wind einige schwere, dunkle Wolken vom Mond weggefegt, und sein Licht, das nun durch ein nahes Fenster strömte, fiel voll auf uns und die herannahende Gestalt, in der wir sofort Miss Temple erkannten.

      »Ich bin gekommen, um dich zu holen, Jane Eyre«, sagte sie. »Ich möchte in meinem Zimmer mit dir sprechen; und da Helen Burns bei dir ist, mag sie auch mitkommen.«

      Wir gingen. Unter der Führung der Schulleiterin mussten wir mehrere verwinkelte Korridore durchqueren und eine Treppe hinaufsteigen, ehe wir in ihr Zimmer gelangten. Im Kamin loderte ein helles Feuer, und der Raum wirkte freundlich und behaglich. Miss Temple forderte Helen Burns auf, sich in einen tiefen Lehnstuhl neben dem Kamin zu setzen, sie selbst nahm in einem anderen Sessel Platz und rief mich dann zu sich.

      »Ist es vorüber?«, fragte sie und blickte mir ins Gesicht. »Hast du dir deinen Kummer von der Seele geweint?«

      »Ich fürchte, das werde ich wohl nie können.«

      »Warum nicht?«

      »Weil man mich zu Unrecht beschuldigt hat; und Sie, Miss Temple, und alle anderen halten mich nun für schlecht und böse.«

      »Wir werden dich für das halten, als was du dich selbst erweist, mein Kind. Sei weiterhin ein braves Mädchen, und wir werden mit dir zufrieden sein.«

      »Wirklich, Miss Temple?«

      »Ja«, sagte sie und legte ihren Arm um mich. »Und nun erzähle mir, wer die Dame ist, die Mr. Brocklehurst deine Wohltäterin nannte.«

      »Mrs. Reed, die Frau meines Onkels. Mein Onkel ist tot, und er hat mich ihrer Obhut anvertraut.«

      »Sie hat dich also nicht aus freien Stücken bei sich aufgenommen?«

      »Nein, Miss Temple; sie tat es nur sehr ungern. Aber wie ich die Dienstboten oft habe sagen hören, hat mein Onkel ihr, kurz bevor er starb, das Versprechen abverlangt, dass sie stets für mich sorgen würde.«

      »Nun, Jane, du weißt ja – oder falls nicht, sage ich es dir jetzt –, dass jedem Menschen, der eines Verbrechens bezichtigt wird, das Recht zusteht, sich zu verteidigen. Du bist der Falschheit beschuldigt worden; verteidige dich vor mir, so gut du kannst. Sag alles, was dir in deiner Erinnerung als wahr erscheint, aber füge nichts hinzu und übertreibe nichts.«

      Ich nahm mir fest vor, äußerst zurückhaltend und gewissenhaft zu sein, und nachdem ich kurze Zeit nachgedacht und Ordnung in meine Gedanken gebracht hatte, damit ich das, was ich sagen wollte, auch zusammenhängend vorbringen konnte, erzählte ich ihr die ganze Geschichte meiner traurigen Kindheit. Ich war von den Gefühlen, die mich an diesem Tag so bewegt hatten, erschöpft und meine Sprache deshalb viel gemäßigter, als sie es sonst zu sein pflegte, wenn es um dieses bedrückende Thema ging; und Helens Mahnung eingedenk, mich vor Hassgefühlen und übermäßigem Groll zu hüten, ließ ich in meinen Bericht viel weniger Bitterkeit einfließen als gewöhnlich. So maßvoll und vereinfacht vorgetragen, klang alles viel glaubwürdiger, und während ich weitererzählte, spürte ich, dass Miss Temple mir ohne Vorbehalt Glauben schenkte.

      Im Laufe meiner Erzählung hatte ich auch Mr. Lloyd erwähnt, der mich nach meinem Anfall besucht hatte, denn nie vergaß ich die für mich so entsetzliche Episode im Roten Zimmer, bei deren Schilderung meine Erregung mit Sicherheit jedes Mal bis zu einem gewissen Grade mit mir durchging. Nichts konnte die Erinnerung an die Seelenqual mildern, die mir das Herz zusammenschnürte, als Mrs. Reed mein stürmisches Flehen um Vergebung zurückwies und mich erneut in dem finsteren Spukzimmer einschloss.

      Ich hatte geendet. Miss Temple betrachtete mich einige Minuten schweigend. Dann sagte sie:

      »Ich habe schon von Mr. Lloyd gehört. Ich werde ihm schreiben, und wenn seine Antwort mit deinem Bericht übereinstimmt, sollst du in aller Öffentlichkeit von jeglicher Beschuldigung freigesprochen werden. Für mich ist deine Unschuld schon jetzt erwiesen, Jane.«

      Sie küsste mich, behielt mich an ihrer Seite (wo ich nur zu gern verweilte, denn es bereitete mir kindliche Freude, ihr Gesicht, ihre Kleidung, die ein, zwei Schmuckstücke, die sie trug, ihre weiße Stirn, ihr gekräuseltes, glänzendes Haar und ihre leuchtenden dunklen Augen zu betrachten) und fuhr an Helen Burns gewandt fort:

      »Wie geht es dir heute Abend, Helen? Hast du heute viel gehustet?«

      »Nicht ganz so viel, glaube ich, Miss Temple.«

      »Und die Schmerzen in der Brust?«

      »Sind ein wenig besser.«

      Miss Temple erhob sich, nahm ihre Hand und prüfte ihren Puls; dann kehrte sie zu ihrem Platz zurück. Als sie sich setzte, hörte ich sie leise seufzen. Ein paar Minuten lang verharrte sie ganz in Gedanken versunken, dann richtete sie sich auf und sagte fröhlich: »Aber ihr beide seid ja heute Abend meine Gäste – da muss ich euch auch wie Gäste bewirten.« Sie läutete.

      »Barbara«, sagte sie zu dem eintretenden Dienstmädchen, »ich habe noch nicht Tee getrunken. Holen Sie das Tablett und stellen Sie noch zwei Tassen für die jungen Damen darauf.«

      Wenig später brachte das Mädchen das Tablett herein. Wie hübsch erschienen mir die Porzellantassen und die blitzblanke Teekanne, die sie auf den kleinen runden Tisch beim Kamin stellte! Wie herrlich dufteten das dampfende Getränk und das geröstete Brot! Doch zu meiner Bestürzung (ich war nämlich mittlerweile recht hungrig) entdeckte ich, dass es nur eine winzige Portion Toast gab. Auch Miss Temple bemerkte es.

      »Barbara«, sagte sie, »können Sie nicht noch etwas Brot und Butter bringen. Das reicht nicht für drei.«

      Barbara ging hinaus und kehrte bald wieder zurück.

      »Madame, Mrs. Harden sagt, sie habe die übliche Menge heraufgeschickt.«

      Ich muss erwähnen, dass Mrs. Harden die Wirtschafterin war, eine Frau so recht nach Mr. Brocklehursts Herzen, die zu gleichen Teilen aus Fischbein und Eisen zu bestehen schien.

      »Nun gut«, erwiderte Miss Temple, »dann müssen wir wohl damit auskommen, Barbara.« Als sich das Mädchen zurückzog, fügte