Jane Eyre. Eine Autobiografie. Charlotte Bronte. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Charlotte Bronte
Издательство: Bookwire
Серия: Reclam Taschenbuch
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783159617015
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      »Es geschieht auf meine Verantwortung«, fügte sie erklärend hinzu und verließ gleich darauf den Raum.

      Wenig später wurden Brot und Käse hereingebracht und zur großen Freude und Erquickung aller Schülerinnen verteilt. Dann ertönte der Befehl: »In den Garten!« Jedes Mädchen setzte sich einen einfachen Strohhut mit bunten Kattunbändern auf und schlüpfte in einen Mantel aus grauem Fries. Ich bekam die gleiche Ausstattung und folgte dem großen Strom hinaus ins Freie.

      Der Garten war ein weitläufiges, von hohen, jegliche Aussicht versperrenden Mauern umgebenes Gelände; an einer Seite erstreckte sich eine überdachte Veranda, und breite Wege säumten eine Fläche in der Mitte, die in Dutzende kleiner Beete aufgeteilt war. Diese Beete waren den Schülerinnen als Gärten zum Bepflanzen und Pflegen anvertraut, und jedes hatte seine Besitzerin. Wenn sie voller Blumen standen, sahen sie sicherlich hübsch aus, aber jetzt, Ende Januar, war alles abgestorben, braun und vermodert. Ich zitterte vor Kälte, als ich so dastand und mich umsah: es war ein unfreundlicher Tag und für einen Aufenthalt im Freien nicht sehr geeignet. Es regnete zwar nicht, aber ein feuchter gelber Nebel verdüsterte den Himmel. Der Boden war von den heftigen Regenfällen des Vortags noch völlig aufgeweicht. Die kräftigeren unter den Mädchen rannten umher und vertrieben sich die Zeit mit Spielen; einige blasse und schmächtigere drängten sich indes, Schutz und Wärme suchend, unter dem Dach der Veranda zusammen, und als die Nebelschleier zu ihren fröstelnden Körpern vordrangen, hörte ich aus ihrer Mitte häufig ein hohlklingendes Husten.

      Bis jetzt hatte ich noch mit keinem der Mädchen gesprochen, und es schien auch niemand von mir Notiz zu nehmen. Ich stand ganz allein da, aber an dieses Gefühl der Einsamkeit war ich ja gewöhnt, es bedrückte mich nicht sehr. Ich lehnte mich an einen Pfeiler der Veranda, zog meinen grauen Mantel enger um mich und versuchte, durch Beobachten und Nachdenken die Kälte, die mich äußerlich erstarren ließ, und den ungestillten Hunger, der mich innerlich quälte, zu vergessen. Meine Gedanken waren zu vage und bruchstückhaft, als dass sie es verdienten, festgehalten zu werden. Ich wusste kaum, wo ich eigentlich war. Gateshead und mein früheres Leben schienen in unendlich weite Ferne gerückt. Die Gegenwart war ungewiss und befremdend, und darüber, was die Zukunft mir bringen würde, konnte ich nicht einmal Vermutungen anstellen. Ich blickte mich in dem klosterähnlichen Garten um und dann am Haus empor, einem großen Gebäude, von dem eine Hälfte grau und alt aussah, die andere dagegen recht neu. Der neuere Teil, in dem Schulzimmer und Schlafsaal untergebracht waren, erhielt das Tageslicht durch Gitterfenster, die durch einen Mittelpfosten geteilt waren und dem Bau ein kirchenähnliches Aussehen verliehen. Eine Steintafel über der Tür trug die Inschrift:

      »Lowood-Stiftung. Dieser Teil des Hauses wurde Anno Domini – durch Naomi Brocklehurst von Brocklehurst Hall in dieser Grafschaft, neu errichtet. – ›So leuchte euer Licht vor den Menschen, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen.‹ – Mt 5, 16.«

      Immer wieder las ich diese Worte. Ich spürte, dass sie einer Erklärung bedurften, und war nicht in der Lage, ihren Sinn zu erfassen. Ich grübelte noch immer darüber nach, was »Stiftung« wohl bedeuten mochte, und bemühte mich, einen Zusammenhang zwischen dem ersten Satz und dem Bibelvers zu entdecken, als ich dicht hinter mir jemanden husten hörte. Ich wandte mich um und sah ein Mädchen auf einer Steinbank ganz in der Nähe sitzen. Sie hatte den Kopf über ein Buch gebeugt, in dessen Lektüre sie vertieft zu sein schien. Von meinem Standort aus konnte ich den Titel erkennen, er lautete Rasselas, ein Name, den ich ungewöhnlich und folglich anziehend fand. Beim Umblättern blickte sie zufällig auf, und ich sprach sie einfach an:

      »Ist dein Buch interessant?«, fragte ich, denn ich hatte mir bereits vorgenommen, sie zu bitten, es mir einmal zu leihen.

      »Mir gefällt es«, antwortete sie nach einer Pause von ein, zwei Sekunden, während der sie mich prüfend ansah.

      »Wovon handelt es?«, fragte ich weiter. Ich weiß gar nicht, woher ich die Kühnheit nahm, auf diese Art und Weise mit einer Unbekannten ein Gespräch zu beginnen. Ein solcher Schritt widersprach meiner Natur und meinen Gewohnheiten; aber ihre Beschäftigung muss verwandte Gefühle in mir geweckt haben, denn auch ich las gerne, wenngleich meine Lektüre eher leichterer und kindlicher Art war. Etwas Ernstes und Anspruchsvolles konnte ich weder verstehen noch verarbeiten.

      »Du kannst es dir ansehen«, erwiderte das Mädchen und reichte mir das Buch.

      Ich nahm es. Ein kurzer Blick überzeugte mich, dass der Inhalt weniger fesselnd war als der Titel. Meinem kindlichen Geschmack erschien Rasselas langweilig. Ich fand nichts über Feen, nichts über Geister, keine heitere, vielversprechende Abwechslung auf den engbedruckten Seiten. Ich gab ihr den Band zurück. Sie nahm ihn schweigend in Empfang und machte Anstalten, sich ohne ein weiteres Wort wieder in ihre frühere Beschäftigung zu vertiefen. Erneut wagte ich es, sie zu stören.

      »Kannst du mir sagen, was die Inschrift auf der Steintafel über der Tür bedeutet? Was ist die Lowood-Stiftung?«

      »Das Haus, in dem du jetzt leben wirst.«

      »Und weshalb nennt man es Stiftung? Unterscheidet es sich denn von anderen Schulen?«

      »Es ist zum Teil eine Armenschule. Du und ich und all die anderen, wir sind alle Freischülerinnen. Sicher bist du eine Waise. Ist nicht dein Vater oder deine Mutter tot?«

      »Beide starben, als ich noch ganz klein war. Ich kann mich nicht an sie erinnern.«

      »Nun, alle Mädchen hier haben einen oder beide Elternteile verloren, und diese Schule nennt sich Stiftung zur Erziehung von Waisen.«

      »Zahlen wir kein Schulgeld? Lässt man uns hier umsonst leben und lernen?«

      »Wir – oder unsere Freunde – zahlen fünfzehn Pfund jährlich pro Schülerin.«

      »Und warum bezeichnet man uns dann als Freischülerinnen?«

      »Weil fünfzehn Pfund für Unterkunft, Verpflegung und Unterricht nicht ausreichen und der fehlende Betrag durch Spenden aufgebracht wird.«

      »Wer spendet denn für uns?«

      »Verschiedene mildtätige Damen und Herren aus der Umgebung und aus London.«

      »Und wer war Naomi Brocklehurst?«

      »Die Dame, die den neuen Teil dieses Hauses erbauen ließ, wie es auf der Gedenktafel steht, und deren Sohn hier alles überwacht und leitet.«

      »Warum?«

      »Weil er der Schatzmeister und Verwalter der Stiftung ist.«

      »Dann gehört dieses Haus nicht der großen Dame, die eine Uhr trägt und angeordnet hat, dass wir Brot und Käse bekommen?«

      »Miss Temple? Nein, nein. Ich wünschte, es wäre so. Sie muss für alles, was sie tut, Mr. Brocklehurst Rede und Antwort stehen. Mr. Brocklehurst kauft alle Lebensmittel und unsere gesamte Kleidung.«

      »Wohnt er hier?«

      »Nein – zwei Meilen entfernt, in einem großen Herrenhaus.«

      »Ist er ein guter Mensch?«

      »Er ist ein Geistlicher, und man sagt, er tue eine Menge Gutes.«

      »Sagtest du, die große, schlanke Dame heißt Miss Temple?«

      »Ja.«

      »Und wie heißen die anderen Lehrerinnen?«

      »Die mit den roten Wangen heißt Miss Smith; sie beaufsichtigt die Näharbeit und schneidet Stoffe zu – wir fertigen unsere Kleidung nämlich selbst an: unsere Kleider, Umhänge, einfach alles. Die kleine mit den schwarzen Haaren ist Miss Scatcherd; sie gibt Geschichte und Grammatik und hört die Aufgaben der zweiten Klasse ab. Und die mit dem Schal, die ihr Taschentuch mit einem gelben Band befestigt an der Seite trägt, ist Madame Pierrot; sie kommt aus Lille in Frankreich und unterrichtet Französisch.«

      »Magst du die Lehrerinnen?«

      »Ja, ganz gern.«

      »Magst