Nun folgte eine Pause von zehn Minuten, während der ich – mittlerweile wieder völlig Herr meiner fünf Sinne – beobachtete, wie alle weiblichen Brocklehursts ihre Taschentücher hervorzogen und sie an die Augen führten, wobei sich die ältere Dame hin und her wiegte und die beiden jüngeren flüsterten: »Wie entsetzlich!«
Mr. Brocklehurst sprach weiter.
»Dies erfuhr ich von ihrer Wohltäterin – der frommen und mildtätigen Dame, die die Waise zu sich nahm, sie wie eine eigene Tochter aufgezogen und deren Güte und Großzügigkeit dieses unglückliche Mädchen mit einer so schlimmen, so schrecklichen Undankbarkeit vergolten hat, dass sich ihre vortreffliche Gönnerin schließlich gezwungen sah, sie von ihren eigenen Kindern zu trennen, weil sie fürchtete, ihr verwerfliches Beispiel könnte deren Reinheit beflecken. Sie hat sie hierher geschickt, damit sie geheilt werde, so wie die Juden früher ihre Kranken zu den aufwallenden Wassern des Teichs Betesda schickten. Und, Lehrerinnen, Schulleiterin, ich fordere Sie auf, die Wasser um sie nicht stille werden zu lassen.«
Mit diesen erhabenen Schlussworten knöpfte Mr. Brocklehurst den obersten Knopf seines Überziehers zu, murmelte etwas zu seiner Familie, die sich daraufhin erhob, verabschiedete sich mit einem knappen Kopfnicken von Miss Temple, und dann segelten all diese bedeutenden Leute majestätisch und stolz aus dem Raum. An der Tür wandte sich mein Richter nochmals um und sagte:
»Lassen Sie sie noch eine halbe Stunde auf dem Hocker stehen, und sorgen Sie dafür, dass heute niemand mehr mit ihr spricht.«
Da stand ich nun hoch oben am Pranger – ich, die ich behauptet hatte, ich könnte die Schmach nicht ertragen, auf meinen eigenen Füßen mitten im Zimmer zu stehen, war nun gleichsam auf einem Podest der Schande allen Blicken ausgesetzt. Meine Empfindungen lassen sich mit Worten nicht beschreiben, doch als sie gerade drohten, mir den Atem zu nehmen und die Kehle zuzuschnüren, näherte sich mir ein Mädchen und ging an mir vorüber. Im Vorbeigehen blickte sie zu mir empor. Welch seltsames Licht leuchtete in ihren Augen! Welch ungewöhnliche Empfindung weckte dieser Lichtstrahl in mir! Neuer Mut erfüllte mich! Es war, als sei ein Märtyrer, ein Held, an einem Sklaven oder Opfer vorbeigegangen und habe ihm Kraft und Stärke eingeflößt. Ich bezwang den Weinkrampf, den ich in mir aufsteigen gefühlt hatte, hob den Kopf und stellte mich ruhig und aufrecht auf den Hocker. Helen Burns fragte Miss Smith irgendetwas Unwichtiges bezüglich ihrer Arbeit, wurde wegen der Belanglosigkeit ihres Anliegens gescholten, kehrte auf ihren Platz zurück und lächelte mir erneut zu, als sie an mir vorüberging. Welch ein Lächeln! Ich sehe es noch heute vor mir, und ich weiß, dass es einem edlen Geist und wahrem Mut entsprang; es erleuchtete ihre markanten Züge, ihr schmales Gesicht, ihre tiefliegenden grauen Augen mit überirdischem Glanz und verlieh ihr ein engelhaftes Aussehen. Und doch trug Helen Burns in jenem Augenblick die Binde um den Arm, die sie als »unordentlich« brandmarkte. Vor kaum einer Stunde hatte ich gehört, wie Miss Scatcherd sie für den nächsten Tag zu einem Mittagessen aus Wasser und Brot verurteilt hatte, weil sie eine Übung beim Abschreiben mit Tintenklecksen verunziert hatte. So unvollkommen ist die menschliche Natur! Solche Flecken gibt es auch auf der Scheibe des hellsten Planeten, und Augen wie die einer Miss Scatcherd sehen nur diese winzigen Mängel und sind blind für den strahlenden Glanz des Gestirns.
Kapitel 8
Noch ehe die halbe Stunde verstrichen war, schlug es fünf Uhr. Der Unterricht wurde beendet, und alle gingen zum Tee in den Speisesaal. Nun wagte ich es herunterzusteigen. Es war schon fast dunkel. Ich zog mich in eine Ecke zurück und setzte mich auf den Fußboden. Der Zauber, der mich bis dahin aufrecht gehalten hatte, begann zu schwinden, und meine Gefühle brachen umso heftiger hervor. Bald sank ich, von unbezwingbarem Kummer übermannt, mit dem Gesicht nach unten auf den Boden. Jetzt weinte ich: Helen Burns war nicht bei mir, nichts gab mir Halt und Kraft. Mir selbst überlassen, gab ich mich selbst auf, und meine Tränen benetzten die Fußbodendielen. Ich hatte in Lowood so artig sein wollen, mir so viel vorgenommen: Ich wollte so viele Freundinnen gewinnen, mir Achtung und Zuneigung verdienen. Schon hatte ich sichtbare Fortschritte gemacht: An eben jenem Vormittag war ich Klassenerste geworden, Miss Miller hatte mich mit freundlichen Worten gelobt, Miss Temple beifällig gelächelt – sie hatte versprochen, mir Zeichenunterricht zu geben und mich Französisch lernen zu lassen, wenn ich während der beiden folgenden Monate weiterhin ähnlich rasch vorankäme. Und auch von meinen Mitschülerinnen wurde ich gut aufgenommen: Die Gleichaltrigen behandelten mich wie eine der Ihren, und niemand quälte mich. Und nun lag ich erneut niedergeschmettert und mit Füßen getreten da. Würde ich mich jemals wieder erheben können?
›Niemals‹, dachte ich und wünschte mir nichts sehnlicher, als zu sterben. Während ich dieses Verlangen mit gebrochener Stimme vor mich hinschluchzte, näherte sich jemand. Ich schreckte hoch – wieder war es Helen Burns. Im schwachen Schein der niedergebrannten Kaminfeuer konnte ich gerade noch erkennen, wie sie durch den langen, leeren Raum auf mich zukam: sie brachte mir meinen Kaffee und mein Stück Brot.
»Komm, iss etwas«, sagte sie, doch ich schob beides von mir. Ich hatte das Gefühl, ich müsste ersticken, wenn ich in der Verfassung, in der ich mich damals befand, auch nur einen Tropfen oder einen Krümel zu mir nähme. Helen sah mich wohl recht erstaunt an, aber sosehr ich mich auch bemühte, ich konnte meiner Erregung einfach nicht Herr werden und weinte laut weiter. Sie setzte sich neben mich auf den Boden, umschlang ihre Knie mit den Armen und stützte den Kopf darauf; in dieser Stellung verharrte sie schweigsam wie ein Indianer. Ich sprach als Erste:
»Helen, warum bleibst du bei einem Mädchen, das alle für eine Lügnerin halten?«
»Alle, Jane? Es haben doch nur etwa achtzig Leute gehört, dass du als eine solche bezeichnet worden bist, auf der Welt leben doch Hunderte Millionen Menschen.«
»Aber was habe ich mit den Millionen zu schaffen? Die achtzig, die ich kenne, verachten mich.«
»Da irrst du dich, Jane. Wahrscheinlich gibt es an der ganzen Schule niemanden, der dich verachtet oder nicht mag. Ich bin sogar sicher, dass viele Mitleid mit dir haben.«
»Wie können sie Mitleid mit mir haben, nach dem, was Mr. Brocklehurst gesagt hat?«
»Mr. Brocklehurst ist kein Gott, er ist nicht einmal ein bedeutender und bewunderter Mensch. Er ist hier nicht sehr beliebt; er hat nie etwas getan, um sich beliebt zu machen. Hätte er dich bevorzugt behandelt, wärst du hier überall auf offene oder heimliche Feinde gestoßen; so aber würden dir die meisten gern ihre Teilnahme zeigen, wenn sie es nur wagten. Lehrerinnen und Schülerinnen werden dir vielleicht ein, zwei Tage lang kühl begegnen, aber in ihren Herzen hegen sie freundschaftliche Gefühle für dich, und wenn du dir weiterhin Mühe gibst, werden diese Gefühle bald umso deutlicher sichtbar werden, als sie zeitweilig unterdrückt werden mussten. Und außerdem, Jane –« Sie hielt inne.
»Ja, Helen?«, sagte ich und legte dabei meine Hand in die ihre. Sie rieb sacht meine Finger, um sie zu wärmen, dann fuhr sie fort:
»Selbst wenn alle Welt dich hasste und dich für böse und gottlos hielte, dein eigenes Gewissen aber dein Tun guthieße und dich von Schuld freispräche, wärest du doch nicht ohne Freunde.«
»Nein, ich weiß, ich sollte nicht schlecht von mir denken; aber das ist nicht genug. Wenn andere mich nicht gernhaben, möchte ich lieber tot sein