Die Amulettmagier. Natascha Honegger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Natascha Honegger
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783960741930
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auch für Menschen ohne besondere Sehfähigkeiten sichtbar gewesen.

      Das dritte Mädchen, das sich schüchtern an Serilena presste, nannten alle Pentrilla, doch im Grunde wusste niemand, wie sein richtiger Name lautete. Es hatte langes, braunes Haar, eine helle, fast schon durchscheinende Haut und braune, mandelförmige Augen. Serilena und Pentrilla waren Waisen – genau wie Isa –, aber in ihrer Art und ihrem Äußeren hätten sie nicht unterschiedlicher sein können. Trotzdem waren die drei Mädchen Freundinnen, beste Freundinnen sogar.

      Serilenas Mutter, eine Fremde, die eines Nachts hochschwanger in Merlina aufgetaucht war, war bei ihrer Geburt gestorben. Ihre letzten Worte hatte niemand verstanden, denn sie sprach eine den Bewohnern von Merlina unbekannte Sprache. Nur den Namen des Babys hatte man herausfinden können: Serilena.

      Pentrillas Geschichte war jedoch weit düsterer als Serilenas. Sie hätte niemals ihren ersten Geburtstag feiern können, wäre der Zufall ihr nicht zu Hilfe gekommen. Halb ausgehungert und bereits zu schwach, um zu schreien, war sie im nahen Wald von einer Gruppe Jäger gefunden und ins Waisenhaus gebracht worden. Ihre Eltern hatten das wehrlose Kind dort ausgesetzt, ob es Verzweiflung gewesen war oder nicht, das wusste niemand.

      Was Isa selbst anbelangte, so hatte man ihr erzählt, dass man sie vor der Waisenhaustür gefunden habe. Die Tatsache, dass ihre Eltern gewollt hatten, dass sie weiterlebte, hatte Isa stets als beruhigend empfunden, auch wenn sie glaubte, ihnen niemals verzeihen zu können.

      Irgendwo schlug eine Tür mit voller Wucht zu und Isa zuckte erschrocken zusammen. Von Pentrilla kam ein erschrockenes Keuchen.

      Unbeweglich standen die drei Mädchen im Schatten und warteten darauf, entdeckt zu werden. Es verging eine Minute, dann zwei. Die Gänge und die Eingangshalle blieben leer. Isa beobachtete den Sekundenzeiger, der sich wie in Zeitlupe vorwärts bewegte, ehe er erneut die Zwölf überschritt. Noch immer keine Geräusche. Keine Schritte. Kein Rascheln von Stoff. Sie entspannte sich und gab ihren Freundinnen ein Zeichen. Die Luft war rein. Vorsichtig begann sie, die lange Treppe in die Eingangshalle hinabzusteigen und überstieg die dritte Stufe, da diese fürchterlichen Lärm machte, wenn man sie berührte. Alles ging gut, bis …

      Padam, Padam, Padam. Das Mädchen erstarrte. Ein leises, beständiges Pulsieren drang an sein Ohr. Isa hatte es bereits in der vergangenen Nacht vernommen, das leise Klopfen, das sich wie ein pulsierendes Herz anhörte. Sie hatte wach im Bett gelegen, weil sie einfach das Gefühl nicht loswerden konnte, dass draußen in der Welt irgendetwas vor sich ging, das ihr Leben grundlegend verändern würde. Es war ein ungewöhnliches Kribbeln, irgendwo in ihrer Magengrube, wie die Ruhe vor dem Sturm. Doch sie konnte nicht sagen, ob es ein gutes oder schlechtes Gefühl war. Vielleicht ein bisschen von beidem.

      Serilena war neben dem Mädchen stehen geblieben und sah es fragend an. „Was ist?“

      „Hört ihr das auch?“, flüsterte Isa beunruhigt. „So ein merkwürdiges Geräusch, ein Pochen …“

      „Ein Pochen?“, fragte Serilena erstaunt und hielt die Luft an, um zu lauschen. „Ich höre nichts.“

      „Also ich auch nicht“, meinte Pentrilla gedämpft und fügte dann etwas hysterisch kichernd hinzu: „Hörst du vielleicht dein Herz? Hat die furchtlose Isa etwa Angst?“

      Diese schüttelte den Kopf und murmelte ernst: „Nein, mein Herz ist es nicht.“

      „Dann siehst du vielleicht nicht nur besser als wir, sondern hast auch ein besseres Gehör“, vermutete Serilena und legte den Kopf schief, während sie erneut mit angestrengtem Gesichtsausdruck in die Dunkelheit horchte.

      „Kaum“, murmelte Isa und winkte ab, nachdem sie eine weitere Sekunde dem Geräusch gelauscht hatte. „Nicht so wichtig. Gehen wir lieber weiter, ehe wir erwischt werden.“

      Langsam schoben sich die Mädchen voran, bis sie den Ausgang des Waisenhauses erreichten. Die alte hölzerne Tür quietschte in den Angeln, als Isa die Klinke mit beiden Händen nach unten drückte und sie vorsichtig aufschob. Dann traten sie in die Nacht hinaus.

      Helles Mondlicht flutete die Landschaft und gab den Blick auf einen schmalen, mit Gras überwucherten Kiesweg frei. Einige verkümmerte Bäume streckten ihre kahlen Äste wie einen Baldachin über ihn und erinnerten an die einstige Pracht einer stolzen Allee. Doch diese Zeiten waren längst vorüber und nur die skelettartigen Überreste waren geblieben.

      Doch statt dem Pfad zu folgen, verließen ihn die Kinder ohne Umschweife und huschten dann geräuschlos durch das feuchte Gras. Sie alle wussten, dass das eiserne Tor am anderen Ende des Weges zu dieser Zeit längst versperrt und unmöglich zu überwinden sein würde. Die drei gelangten zu einer hohen Mauer aus bröckelndem Gestein und folgten ihr bis zu einem Teil, der so weit in sich zusammengefallen war, dass man mühelos darüber hinwegsteigen konnte. Zeit und Witterung hatten beste Arbeit geleistet, doch das Waisenhaus hatte glücklicherweise nicht genug Geld, sie instand zu setzen.

      Kaum hatten die Kinder die Mauer hinter sich gelassen, wich ihre bedrückte Stimmung und schlug in eine Art Vorfreude um. Ausgelassen, manchmal schlendernd, manchmal laufend, folgten sie der ungepflasterten Landstraße hinauf zur Stadt.

      „Was denkt ihr? Wird uns Madam Seirone etwas aus unserer Zukunft offenbaren?“, flüsterte Pentrilla den anderen mit glitzernden Augen zu.

      Madam Seirone war eine fahrende Wahrsagerin, die vor wenigen Tagen in Merlina haltgemacht hatte. Eigentlich war Magie in Aria bei Todesstrafe verboten, doch der Herrscher hatte die alte Frau bisher unbehelligt ihrer Wege ziehen lassen, sei es, weil sie keine echte Wahrsagerin war oder aber weil sie sich sehr geschickt seinen Schergen zu entziehen wusste. Hier in Merlina war allerdings noch niemals jemand wegen Magie hingerichtet worden. Zu abgelegen und unwichtig war die Stadt.

      „Zum Glück“, dachte Isa bei sich, denn ihre magisch leuchtenden Augen hätten ihr in anderen Städten zweifellos zum Verhängnis werden können. Dass sie noch ein Kind war, spielte da keine Rolle.

      „Isa?“ Ihre beiden Freundinnen starrten sie fragend an und holten sie in die Gegenwart zurück.

      „Ja?“

      Serilena tätschelte ihre Hand und lächelte. „Wir haben dich gefragt, was du denkst, dass sie in deiner Zukunft sieht?“

      Isa runzelte nachdenklich die Stirn. „Ich weiß nicht, ob ich so erpicht darauf bin, zu sehen, wie übel meine Zukunft aussieht. Ihr solltet euch da besser auch keine zu großen Hoffnungen machen.“

      Pentrilla verzog das Gesicht und verschränkte schmollend die Arme vor der Brust. „Ach komm schon“, murrte sie. „Sei keine Spielverderberin!“

      Isa schwieg, konnte ein Lächeln jedoch nicht ganz unterdrücken. Pentrilla dachte in ihrer vor Energie stets übersprudelnden Art immer positiv. Nur wenige Dinge konnten ihre Stimmung trüben oder ihre Beherrschung ins Wanken bringen.

      Die Mädchen hatten Merlina erreicht und traten an das südwestlich gelegene Stadttor heran. Die zwei Wachen in den ausgeblichenen, blauen Uniformen arianischer Soldaten, die dieses eigentlich bewachen sollten, waren nirgendwo zu sehen. Vermutlich saßen sie ihren Wachdienst in einer der nahen Tavernen ab und gaben sich dem Rausch des Alkohols hin. Schließlich war um diese nächtliche Stunde sowieso nur selten etwas los.

      „Diese Dummköpfe!“, dachte Isa. Sollte es jemals wieder zu einem Angriff auf die Stadt kommen, waren die Bürger diesem schutzlos ausgeliefert.

      Nicht einmal das Tor hatten sie geschlossen. So betraten die Kinder unbehelligt die Stadt und folgten der gepflasterten Hauptstraße zum anderen Ende von Merlina. Irgendwo miaute eine Katze und ein Hund bellte laut, bis ihn eine wütende Frauenstimme ermahnte, endlich still zu sein. Ratten und Mäuse huschten kreuz und quer über den Weg und verschwanden dann zwischen den Häusern.

      „Und du bist dir sicher, dass wir Madame Seirone in den Höhlen finden?“, fragte Pentrilla Serilena gerade zweifelnd. „Wäre es in der Stadt nicht viel gemütlicher für sie?“

      „Sie ist eine Einzelgängerin“, kam Isa ihrer Freundin zuvor. „Und falls sie tatsächlich im Besitz von magischen Kräften