Scirocco. Gerhard Michael Artmann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gerhard Michael Artmann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783842283893
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jetzt. Nein! Noch eine Stunde warte ich! Bis zum Sonnenuntergang warte ich, dann, dann werde ich alles auf einmal aufessen. Ich werde schlemmen wie nie vorher. Dann werde ich schlafen, bis die Sonne wieder aufgeht, oder auch für immer. Egal, wenn es denn so sein soll, dann werde ich endlich Gewissheit haben, dass mich nichts mehr in diesem Boot hält.

      Ich ließ mein Bein seitwärts ins Wasser baumeln und schaute auf das Meer. Das machte ich mehrmals am Tag. Es war gut für den Kreislauf, dachte ich in den mir immer ferner erscheinenden Gedankengängen meines vorherigen Lebens. Ja, es war gut für den Fuß. Ihn tangierte das nicht, er machte es auch nicht nach, brauchte er auch nicht, so wie er stetig, fast wie eine Maschine, in die Riemen ging. Er war stark, ungeheuer stark, viel stärker als ich. Ich fühlte mich schlecht. Ich wollte ihm etwas sagen. Zum Beispiel, wie sehr ich ihn bewunderte und dankte und wie stark ich ihn fand und wie sehr leid es mir tat, dass wir so enden mussten und dass ich keinen einzigen Ruderschlag zu meiner Rettung hatte beitragen können. Welche Rettung? Er würde mir ohnehin nicht antworten. Seit einigen Tagen zeigte er kaum noch Anzeichen, dass er mich überhaupt wahrnahm. Ja, ich wollte gesund bleiben, auch wenn wir nicht miteinander redeten.

      An jenem Abend strebte die Sonne wie stets langsam dem Horizont zu, rötete, fiel ins Meer und wurde tausendfach von diesem wie zum Abschied zerstreut. Schade, dass er das nicht wahrnehmen wollte. Er schwitzte. Ich brauchte ihn nicht anzusehen, um das zu wissen. Er tat mir leid.

      Jetzt war die Sonne untergegangen, vielleicht an meinem letzten Abend. Langsam wandte ich mich um, schaute ihn an und dann auf mein letztes Stück Brot. Wie in einer heiligen Zeremonie griff ich danach und aß langsam alles auf, vor seinen Augen, wenn sie mich denn angesehen hätten. Den ganzen erbärmlichen Rest aß ich auf. Ich war erleichtert. Es war nichts mehr übrig, außer dem restlichen Wasser im Tank. Noch vier fünf Tage würde ich ohne zu essen durchhalten, vielleicht.

      Auch er hatte nun seine Ruder abgesetzt und aß. Er aß, als ob er betete. Auch wenn er sparsam ist, dachte ich, reicht es auch für ihn nicht länger als eine Woche nach mir.

      Am nächsten Morgen wachte ich bei hellem Tageslicht auf. Neben mir war etwas aufgeklatscht und zappelte. Ungeschickt griff ich danach und hielt es fest. Es war ein fliegender Fisch. Ich griff ihn fest. Er hatte die Ruder losgelassen und wirkte erschrocken.

      »Lass ihn los, wirf ihn zurück, sofort«, schrie er mich an. »Wir können ihn uns teilen, frisches Eiweiß, ich hab nichts mehr zu essen.« – »Egal, ich will ihn nicht teilen, wirf ihn zurück.« Er bückte sich unter den Sitz, zog sein Essen hervor und öffnete das Papier. »Hier, die Hälfte ist für dich.« Ich hielt immer noch den zappelnden Fisch in den Händen. Er hatte wieder zu den Rudern gegriffen. »Wirf ihn zurück, er wird nicht geteilt, er kann nichts dafür.«

      Ich brauchte ihn nicht zu fragen, wofür genau. Seine Körperhaltung war eindeutig. Ich schämte mich und warf den Fisch zurück. Es klatschte leicht. Er war augenblicklich verschwunden. Ich schaute noch länger auf den Ort, wo er verschwunden war, als ob er zurückkäme.

      Dann blickte ich auf und sah ihn direkt an. Unsere Blicke begegneten sich zufällig, offenbar hatte er den Horizont abgesucht, während ich dem Fisch nachgeschaut hatte. Ich nutzte die Gelegenheit und sagte langsam und fast unhörbar: »Es gibt keine Hoffnung für uns. Ich habe navigiert. Es ist gut, dass wenigstens er weiterlebt. Ich habe dich verstanden.« Er antwortete nichts. Es war still. Die Wellen schlugen gegen die Bootswand. Er ließ die Ruder los, stand auf und gab mir die Hand. Dann teilte er das Essen. In seinen Augen sah ich Müdigkeit und Härte. Doch dann, ganz unerwartet, weichte diese Härte auf. Sein Gesicht zuckte, und er begann zu weinen. Er weinte so heftig wie ein Kind, so, wie ich noch keinen Mann hatte weinen sehen. Wir umarmten uns. Ich sagte ihm: »Ich wollte doch nur weiterleben, verstehst du?« – »Ich auch«, sagte er und setzte sich zurück an die Ruder.

      »Warum hast du dann die ganze Zeit gerudert?« Er antwortete: »Hast du denn den Brief nicht gelesen? Ich konnte etwas für die Hoffnung tun. Ich konnte sie nicht ersitzen, verstehst du. Ich musste mein Essen mit dir teilen, damit es so lange ging, wie es gehen konnte, wir zusammen. Das gab mir Sicherheit und Hoffnung.« – »Es gibt keine Hoffnung, wir hätten miteinander reden können, um uns Halt zu geben.« – »Ich habe aber Hoffnung, ich hatte Angst, du würdest sie mir ausreden. Deshalb habe ich nicht gesprochen.«

      Damit wäre unsere Geschichte zu Ende gewesen. Ich setzte mich fassungslos auf meine Bank. Er ruderte wie zuvor weiter. Wir aßen noch ein paar Tage unsere Reste, tranken das verbliebene Wasser, bis kein einziger Tropfen mehr kam. Wir warteten einen Tag, zwei Tage. Am Abend des zweiten Tages zog er die Ruder ein, nein, er warf sie nicht ins Meer. Er zog die Ruder nur ins Boot und schlief sofort erschöpft ein. So also, dachte ich, auf ihn schauend, sterben wir. Der eine hoffnungslos und der andere erschöpft. Was ist besser? Dann schlief auch ich ein.

      Nein, unsere Geschichte war noch nicht zu Ende. Ich erwachte von einem Schiffshorn, das so laut war, als hinge es dicht über mir. Ich war sofort auf den Beinen, er auch. Keine Meile vor uns sahen wir ein Kreuzfahrtschiff. »Adventure Travel«, lasen wir. Sie ließen ein Boot zu Wasser. »Sie holen uns!«, schrie ich und riss ihn an mich, dass wir fast ins Wasser gestürzt wären. Er war fassungslos, einfach nur fassungslos, aber dennoch sehr sehr froh. Ich sagte wie immer nichts, aber ich sah es in seinen Augen.

      Der Rest ist schnell erzählt. Wir wurden gerettet und in Decken gehüllt. Noch während wir im Boot saßen, surrten Helikopterdrohnen über unserem Boot mit Kameras daran. Jede unserer Bewegungen wurde gefilmt. Als man uns über Deck leitete, wurden wir von Menschenmengen bedrängt, wie es sonst nur bei Politikern und Sportlern zu sehen ist. Menschen wünschte sich Selfies mit uns, zogen uns an unseren Decken zu sich, wünschten Autogramme, einer wollte ein Interview. Wir waren sprachlos und sehr, sehr verwirrt. Er schaute mehr als hilflos zu mir herüber. Wir wurden gezogen, gedrängt und geschoben und ließen es geschehen. Wir waren schlaff, erschöpft und willenlos. Ich war seltsam freudlos. Ich wollte plötzlich weg von hier, weg von all den Menschen und dem Tumult.

      Durch das Gedränge hindurch erblickte ich ein Poster mit der Botschaft Adventure Travel … Whale watching …Our this year‘s highlight … Rescue of real shipwreckers. Der Kapitän kam aus der Menge auf uns zu und wollte uns begrüßen. Mein Freund hatte das Poster auch gesehen und offenbar sofort dessen Sinn erfasst. Auch ich war entsetzt. Er aber sprang dem Kapitän an die Kehle und drückte so schnell zu, dass ihn niemand davon abhalten konnte.

      »Woher wusstet ihr, dass wir noch nicht verreckt waren?« Der Griff war hart. Der Kapitän würgte und bekam keine Luft. Er lief rot an. Mein Freund schrie: »Sag es!« Er zog sein Messer. »Sag es, oder ich bringe dich um, ich schwöre …« Er ließ dem Kapitän etwas Luft und schrie erneut: »Sag es, sag es! Dreckskerl, sag es mir, und dann sagst du es deinen Kunden und der Presse …!« Der Kapitän hustete und spuckte, dann quälte er den Satz heraus: »Euch konnte doch nichts … passieren, wir wussten … wie viel … Wasser ihr noch hattet … Jederzeit konnten wir euch … helfen … falls Gefahr …« Mein Freund drückte fester zu und hätte ihn umgebracht. Der Kapitän wehrte sich kaum noch. Da ging der erste Offizier dazwischen und riss meinen Freund weg. »Euch konnte nichts passieren, wir wusste immer, wo ihr wart.«

       Bitte warten

      Warum will er nicht singen?

      wir haben es ihm gesagt

      wir haben es ihn gelehrt

      sogar haben wir ihm vorgesungen

      Alles, worauf er hoffte, würde sich hinter jener Tür vollziehen, an der ein Schild hing: »Bitte warten. Sie werden einzeln aufgerufen!« Daran glaubte auch er und nahm Platz in dem geräumigen Vorzimmer. Viele andere warteten mit ihm, auf das große Glück, auf ein besseres Leben, dass sie es einmal leichter haben würden, dass es ihren Kindern später besser ging. Diese Gemeinschaft, in der alle nur ein Ziel hatten, hinter jene Tür zu gelangen, bestärkte ihn darin zu bleiben, weil nicht falsch sein konnte, was alle taten. Geduldig abzuwarten galt als sichere Methode, in den Genuss dessen zu kommen, was man erhoffte.

      Wenn wieder ein Glücklicher eintreten durfte, blickten alle auf. Wieder einer hat es geschafft! Es hat sich gelohnt!