Scirocco. Gerhard Michael Artmann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gerhard Michael Artmann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783842283893
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kam herein.

      Moob fragte, ohne sich umzuwenden, ob er es sei, Jost.

      Jost nickte, obwohl Moob ihn nicht sehen konnte.

      Moob dann: Setz dich schon her, alter Schweiger.

      Jetzt saßen sie beide in der Ecke hinter dem Schrank, der den Blick zur Tür versperrte, aber dafür die Sicht zum Garten hin frei ließ.

      An gewöhnlichen Tagen hätten sie hier ein, zwei Stunden nebeneinandergesessen und geschwiegen, bis die Dunkelheit kam und Jost gehen musste.

      Jost brach gewöhnlich mit Einbrechen der Dunkelheit zum Dienst auf, denn er war Nachtwächter.

      Ich geb es auf, sagte nun Moob.

      Ja, erwiderte Jost, es lohnt nicht.

      Hast du verstanden, Jost, ich geb es auf, ich breche ab.

      Ich meinte, sagte Jost, du hast recht, es lohnt nicht, nicht abzubrechen. Ich habe schon lange gedacht, dass du abbrechen solltest.

      Moob blickte Jost an. Und warum hast du dann nichts gesagt?

      Jost schwieg. Er hielt die Frage für überflüssig.

      Draußen fiel der erste Schnee.

      Der Schnee fällt leicht dieses Jahr, fuhr Moob fort.

      Ja, versetzte Jost.

      Willst du nicht wissen, warum ich abbrechen werde?

      Jost: Du hast es satt, zu sammeln. Irgendwann einmal hat man das satt, wenn man ehrlich ist.

      Moob erwiderte nichts.

      Jost blickte zur Decke. Dort hing ein Kronleuchter neben dem anderen: goldene, silberne, gläserne, hölzerne und andere aus Elch- und Hirschgeweih. Einer war aus Stahl. Moob bemerkte den Blick und sagte: Weißt du denn, wie lange ich gebraucht habe, um die alle zu sammeln?

      Sechs Jahre, antwortete Jost, oder sieben, jedenfalls war das deine Kronleuchterphase.

      Den da, Moob zeigte auf ein Monstrum aus Hirschgeweih, hab ich im Steinacher Hof geklaut.

      Jost lächelnd: Es war Punkt zwölf, als ich die Sicherung herausgedreht habe.

      Junge, muss ich damals verrückt gewesen sein, meinte Moob. Er strich sich über seinen erheblichen Bauch.

      Jost blickte auf Moobs Bauchnabel, der zwischen den Knöpfen hervortrat, und fand: Dein Bauch hat sich auch gehalten, obwohl deine Fressphase lange vorüber ist.

      Moob dazu: Ich hab damals reingehauen, weil ich unglücklich verliebt war.

      Ja.

      Und du warst glücklich, mein lieber Jost, ich erinnere mich genau.

      Und beide wegen derselben Frau, versetzte Jost. Jost lächelte, das muss gegen Ende deiner Frauenphase gewesen sein.

      Draußen fiel der Schnee sehr dicht.

      Soll ich ein Licht anzünden?, fragte Moob.

      Ich denke, es ist nicht nötig, erwiderte Jost, es ist wirklich unnötig.

      Moob lehnte sich wieder in seinen Sessel zurück.

      Jost zeigte sich zufrieden, denn er konnte es nicht ausstehen, mit ansehen zu müssen, wie Moob Licht machte an der Kronleuchterdecke. Es war jedes Mal ein Wagnis für Moob. Erst nahm er die Streichhölzer, stellte dann einen Hocker auf den Tisch, stieg danach auf einen Stuhl, kletterte von da auf den Tisch, von dort auf den Hocker, und wenn er nicht die Streichhölzer unten vergessen hatte, zündete er die kleine Petroleumlampe an, denn keiner der Kronleuchter gab Licht. Zweimal bereits war Moob dabei abgestürzt und hatte sich verletzt.

      Erinnerst du dich, Jost, fuhr Moob fort, als ich Regierungschefs gesammelt habe?

      Ja, das war zwischen deiner Frauenphase und deiner Che Guevara-Phase.

      Ich habe die Flaschen noch.

      Jost: Ich weiß.

      Moob griff in das seitliche Regal und nahm eine Shampooflasche heraus. Das ist Stalin auf dem Sterbebett, sagte er. Ich saß gerade in der Wanne, als ich in der Zeitung das Bild fand. Ich hatte nur diese Shampooflasche griffbereit. Siehst du, sie war nicht ganz trocken. Das Bild hat Ränder.

      Und warum hast du nicht gewartet, bist du aus der Wanne heraus warst und die Flasche trocken war, bevor du das Bild hineingetan hast?

      Ich habe gesammelt wie ein Verrückter, Jost, das weißt du doch.

      Jost schämte sich. Er hätte schweigen sollen.

      Der Schnee kam so dicht, dass kaum noch Licht einfiel.

      Nur in der Schule war ich faul, fand Moob.

      Warum hättest du lernen sollen?, fragte Jost. Du warst doch Sammler.

      Das ist kein Beruf.

      Jost schwieg.

      Moob überging das Schweigen: Damals habe ich Schmetterlinge gesammelt. Es waren die schönsten Schmetterlinge, die es in der Gegend gab.

      Ja.

      Erinnerst du dich?

      Natürlich! Du hast ihnen nachgesetzt, bis du sie hattest, und dann hast du ihnen eine Nadel durch den Körper gestoßen.

      Bist du mir noch böse, Jost?

      Nein, Moob. Damals begriff ich, dass du Sammler bist.

      Moob nachdenklich: Damals wusste ich noch nicht, was das bedeutet. Er stellte Stalin in das Regal zurück. Und warum hast du die ganze Zeit zu mir gehalten, Jost?

      Draußen fiel der Schnee so dicht, dass es im Raum vollkommen dunkel wurde.

      Jost blickte hinaus und antwortete nicht.

      Auch Moob verdrehte jetzt seinen Sessel so, dass er bequemer nach draußen blicken konnte. Nach einer Weile sagte er: Morgen geb ich die Sachen weg, Jost.

      Doch Jost hörte ihn nicht mehr, er war eingeschlafen und atmete in tiefen Zügen.

       Der Mann

      Freund, ruh dich stehend aus

      nein, leg dich

      nicht hin nicht einschlafen

      wir brauchen dich aufrecht

      Der junge Mann sah gut aus. Die Frau des Diktators hatte ein Auge auf ihn geworfen. Der Kerl war zudem intellektuell. Als er zur Toilette ging, folgte sie ihm. Auf dem Flur, bei dessen Rückkehr, zog sie an seinem Schlips. Der rutschte aus der Weste. Sie griff ihm ins Gebein. Der junge Mann war entsetzt. Der Diktator, der seine, diese Frau immer noch bestieg, aber hauptsächlich bei den Huren zu Hause war, saß nur zehn Meter weiter, nur durch die Tür vom Gang zur Toilette getrennt. Es schall sehr laut sein Lachen herüber. Sogar der Qualm seiner Zigarre zog seine Bahn zum Entlüftungsschacht des Klos. Jemand riss laut hörbar einen Witz über Huren, und alle lachten. Sie fummelte an seiner Hose herum und zog zugleich eine Titte heraus. Der junge Mann war wirklich attraktiv. Er war klug und unerfahren mit Weibern.

      Das Mädchen, das der junge Mann vor wenigen Monaten getroffen hatte, wollte ihn gern heiraten. Ihr Vorname war Ànn. Sie hatte schon Ja gesagt, aber sie hätte den Kopf geschüttelt, hätte er sie nach Sex gefragt. Das war so damals. Sie wollte seine Ehe mit ihm, diesem Mann, und er wollte seine Ehe mit ihr, dieser Frau, mit Sex besiegeln, und zwar wenn alle Hochzeitsgäste weg waren. Sich gegenseitig die Klamotten herunterreißen, in die Ecke werfen und sich aufeinanderstürzen. – Macht nichts, wenn Blut fließt! – Sie wusste von ihrer Mutter, dass es ihr zu Beginn wehtun könnte, aber danach: »Wenn der Mann dich liebt, wirst du sehr glücklich sein.« Das Mädchen hatte dem jungen Mann dies in der Nacht auf der Bank vor dem Haus erzählt, kurz nachdem er es gefragt hatte, ob es seine Frau werden wollte. Die Hochzeit war für den kommenden Monat geplant. Es ging seither hoch her im Haus des Mädchens und in seinem, denn die Ehe zwischen Menschen, aus der Kinder entsprangen, das war keine Kleinigkeit. Es ging schließlich