Eine Woche später bekamen Thomas und seine Mutter eine Unterlassungsklage und noch etwas später einen gerichtlichen Bescheid wegen massiven Stalkings, der beiden künftig verbot, sich dem Vater auf eine Entfernung von weniger als fünfzig Meter zu nähern.
»Und dein Alter?« Die Frage war Karl irgendwie herausgerutscht. Schnell ergänzte er deshalb: »Vergiss es.«
»Kein Problem«, gab sich Thomas ganz gelassen.
»Echt, vergiss es … Ist doch auch scheißegal, oder?«
»Klar, Mann. Hauptsache, die Kohle kommt jeden Monat rüber!« Thomas lachte gekünstelt, ballte die Hand mit der Zigarette zur Faust und reckte sie Karl entgegen, der sie mit seiner Faust berührte. In diesem Augenblick fiel Karl der zusammengefaltete Zettel am Boden auf, der Thomas aus der Tasche gerutscht sein musste.
»Was ist das?«
Thomas erschrak, als er den Zettel sah und bückte sich danach, aber Karl war schneller und stellte seinen Fuß darauf.
»Was soll das? Das ist mein Zettel!« Mit seinen immer noch kindlichen Fingern versuchte der Junge den Zettel unter dem Schuh hervorzuziehen, doch Karl gab ihm einen kräftigen Stoß, der ihn nach hinten umwarf. Der Aschenbecher polterte über den Laminatboden.
»Mann, spinnst du?«, schrie Thomas, überrascht von der Heftigkeit der Reaktion.
»Was ist das?«, fragte Karl noch einmal, hob langsam den Zettel auf und entfaltete ihn. Ein schlechtes Foto von Thomas war darauf zu erkennen.
»Das ist mein Zettel, der geht dich einen verdammten Scheiß an.« Thomas rappelte sich wieder auf.
Karls Stimme war nun laut und wütend: »Wenn es jemanden was angeht, dann mich. Was glaubst du denn? Glaubst du deine hirnlose Mutter geht das was an, oder deinen Arschlochvater? Du gehst denen am Arsch vorbei. Am Arsch! Die interessieren sich einen Dreck für dich. Also geht es mich was an. Verstehst du? Denn ich bin der Einzige, dem du nicht egal bist! Der Einzige! Hast du das kapiert?«
Thomas nickte zögerlich, aber das war Karl offensichtlich nicht genug.
»Hast du das kapiert? Sag es!«
Thomas Stimme klang fast weinerlich. »Ja, ich hab’s kapiert!«
Karl wendete seinen Blick ab und richtet ihn auf den Zettel. Aufmerksam las er den Text, der unter dem Foto stand, mit leiser Stimme vor.
»Verehrte Nachbarn,
in unserem Stadtviertel wohnt der bekennende Neonazi Thomas Worch. Der am 28. Oktober 1996 geborene Schüler des Sophie-Scholl-Gymnasiums und Sohn des ärztlichen Direktors der St.-Helena-Klinik Prof. Dr. Friedrich Worch wird sowohl in der Schule als auch in sozialen Netzwerken mit seiner zutiefst menschenverachtenden Gesinnung auffällig. Wir wenden uns an Sie, weil es sich erwiesen hat, dass das nähere soziale Umfeld in solchen Fällen erheblichen Einfluss nehmen kann. Wir fordern Sie auf, Thomas so oft wie möglich mit seiner verkommenen Einstellung zu konfrontieren und ihr gegenüber keinerlei Toleranz zu zeigen!«
Für einen kurzen Moment herrschte eisige Stille im Raum.
Dann brach Karl das Schweigen und sein ruhiger, aber bedrohlicher Tonfall schnürte Thomas die Luft ab.
»Wer hat das geschrieben, Thomas?«
Ja, das waren Schweine! Ja, sie hatten es verdient, dass Karl sie fertigmachte, aber nein, sie waren es nicht wert, dass Karl wieder einsitzen musste!
»Das sind doch nur Idioten …!«
»Wer?«
»Irgendwer aus der Nachbarschaft. Keine Ahnung!«, log Thomas verzweifelt.
Blitzschnell packte Karl eine der kleinen Kinderhände und umklammerte sie brutal wie ein Schraubstock. Langsam erhöhte er den Druck.
»Du nennst mir jetzt die genauen Namen, oder ich breche dir alle Finger.«
Thomas begann zu weinen. Nicht nur wegen des Schmerzes, sondern weil er wusste, dass er nur verlieren konnte, egal, was er nun sagte.
»Ich kann dir das nicht sagen, ich kann es nicht. Auch wenn du mir wehtust, ich kann es nicht!«
Karl war außer sich vor Wut. Er wollte dem Kleinen nicht wehtun, aber sein Hass war stärker als sein Mitleid. Die hilflose Kinderhand spürte er in seiner Faust kaum mehr, die er nun erbarmungslos zusammenpresste. Thomas hatte Rotz und Wasser im Gesicht, während er vergeblich versuchte, mit der zweiten Hand den Griff zu lösen.
Karl verlor endgültig die Selbstbeherrschung und schrie Thomas ins Gesicht. »Warum nicht?!«
Mit letzter Kraft schrie Thomas schluchzend zurück: »Weil du, weil du sonst Scheiße baust und … und wieder in den Knast kommst, und mich wieder alleine lässt …«
Das traf Karl wie ein Faustschlag in sein rot angelaufenes Gesicht. Er lockerte augenblicklich den Druck, und tiefe Scham überkam ihn.
Ich bin so ein Scheißkerl.
Dem einzigen Menschen, der ihm wirklich noch etwas bedeutete, hatte er furchtbar wehgetan, während dieser ihn nur beschützen wollte.
Seine Wangen begannen leicht zu zittern, und er nahm den weinenden Jungen vorsichtig in die Arme und drückte ihn an seine Brust.
»Das wird nicht geschehen. Nie wieder, ich verspreche es dir. Ich werde da sein für dich. Immer!«
SELIGMANN I
DONNERSTAG, 14. OKTOBER 2010
Stadträtin Dr. Seligmann war einen Kopf größer als der junge Anzugträger an ihrer Seite, mit dem sie soeben die Tiefgarage des örtlichen Rathauses betrat.
Seligmann war Mitte fünfzig. Die grauen Haare trug sie modisch kurz, eine randlose Brille unterstrich den Ausdruck ihrer wachen Augen. Sie hatte ihr ganzes Leben der Politik gewidmet. Der Fall der Mauer war wie eine Initialzündung gewesen. Die Bürger der ehemaligen DDR schöpften damals wieder Hoffnung und vor allem in ihrer Gemeinde führte dies in den ersten Jahren zu einem spürbaren Aufschwung. Gleichzeitig lockte jedoch der Westen mit Luxus, höherem Lebensstandard und besser bezahlten Arbeitsplätzen. Knapp eine Million Menschen waren seit dem Mauerfall in den Westen gezogen, aber langsam besserte sich die Situation, woran vor allem die Kommunalpolitik der Gemeinden und Städte einen großen Anteil hatte. Trotz der positiven Prognosen konnte jedoch das rechte politische Lager Profit aus der Not vieler Menschen schlagen und mit seinen Hetzparolen Zuspruch in der Bevölkerung finden.
Für Seligmann war die Politik nicht nur ein Beruf, es war eine Lebensaufgabe, der sie sich bis an ihre Leistungsgrenze verschrieben hatte. Es war ihr nie daran gelegen, Karriere in der Politik zu machen, sondern Dinge zu verändern und zu verbessern. Der Kampf gegen Arbeitslosigkeit und die Bemühungen, die Gemeinde als Industriestandort attraktiver zu machen, waren in etwa vergleichbar mit dem Bestreben einer Prostituierten, Jungfrau zu bleiben. Arbeitsplätze ja, aber Ausbeutung? Nein! Die Not »des Ostens« war für viele Konzerne verlockend, sie erinnerten Seligmann an Aasgeier, die die letzten Fetzen Haut von den Knochen reißen wollten.
Die letzten fünfzehn Jahre hatten sie zu einer harten, unbarmherzigen Kämpferin werden lassen und ihr den Posten der Oberbürgermeisterin eingebracht. Ihr Einfluss und ihre Macht war gestiegen, so wie auch die Furcht vor ihr. Selbst die Vorstände großer Konzerne hofierten die »First Lady«, wie man sie gerne nannte, und buhlten um ihre Gunst.
Für die Ernennung zur Spitzenkandidatin der SPD für die Landtagswahl 2004 hatte sie den Bürgermeisterposten geräumt. Doch trotz guter Prognosen schnitt ihre Partei schlechter ab als in der vorhergehenden Wahl. In ihren Augen war es eine blamable Niederlage, denn zum ersten Mal zog die NPD mit zwölf Sitzen in den Landtag ein, und das mit nur einem Sitz weniger als die SPD. Für Seligmann und viele Parteigenossen war dies nicht mehr und nicht