Karl nickte, auch wenn er nicht wirklich verstand, was Alois damit gemeint hatte.
Auf dem Rückweg durch den Schnee sprach Alois kein einziges Wort. Karl hatte so viele Fragen und konnte doch keine einzige aussprechen. Die Menge der neuen, schockierenden Erkenntnisse schwirrte in seinem Kopf umher wie ein wild gewordener Schwarm Bienen. Nur ein Satz zeichnete sich immer wieder klar vor seinem geistigen Auge ab:
»Die Juden sind an allem schuld!«
Es war das letzte Mal, dass Karl seinen Opa sah. Nur wenige Monate später starb er, noch bevor die Mauer fiel.
Karl zog ein letztes Mal an der Zigarette, dann schnippte er den Stummel weit von sich, der in hohem Bogen auf die Straße flog. Langsam trottete er in Unterhose und Unterhemd in die Küche. Normalerweise war seine Mutter um diese Uhrzeit schon wach und brutzelte für »ihre Jungs« Eier mit Speck, aber der Speck lag unangetastet auf einem Brett neben der kalten Pfanne.
Dann hörte er den Fernseher aus dem Wohnzimmer – ungewöhnlich um diese Uhrzeit, da seine Eltern den Fernseher eigentlich nur am Abend einschalteten. Neugierig betrat er das Wohnzimmer. Zu seinem Erstaunen stellte er fest, dass nicht nur seine Mutter, sondern auch sein Vater gebannt auf den Fernseher starrte.
Die Bilder zeigten nächtliche Krawalle, Demonstranten warfen Steine auf Polizisten, die offensichtlich versuchten, ein Asylantenheim vor der Menge zu schützen. Es war von zweitausend Bürgern die Rede, die am vergangenen Abend gegen das Asylantenheim in Rostock-Lichtenhagen demonstriert hatten.
Karls Augen funkelten vor Erregung.
»Deutschland erwacht!«, rief er aus und erntete dafür Applaus von seinem Vater. »Ich muss Kai anrufen! Es geht los, es geht endlich los …«
Mit diesen Worten wandte er sich ab und stürzte zurück in sein Zimmer, um sich anzuziehen.
Seit Wochen war klar gewesen, dass es in Rostock irgendwann krachen würde. Das Auffanglager für Asylbewerber in Lichtenhagen war vollkommen überfüllt. Es lag in einem elfgeschossigen Plattenbau und belegte dort einen von zwölf Hauseingängen. Über dreihundert Neuankömmlinge kampierten in Decken und Plastiksäcken gehüllt auf den angrenzenden Grünanlagen und mussten ihre Notdurft an der Mauer des Plattenbaus verrichten. Die Stadt weigerte sich, mobile Toiletten aufzubauen, um die Situation nicht zu »legalisieren«. Der Zorn der Anwohner wurde von Tag zu Tag größer. Es hatte sich nur um eine Frage der Zeit gehandelt, bis dieses Pulverfass explodierte. Sogar die Zeitungen hatten über die Drohungen der rechten Szene geschrieben, aber die Behörden hatten weiterhin tatenlos zugesehen.
Karl und sein bester Freund Kai hatten die Entwicklung mit Spannung verfolgt. Ihr Plan war ganz einfach: Sobald die ersten Steine flogen, würden sie sich auf den Weg machen, um endlich den Anschluss zur Szene zu bekommen.
Gerade als Karl seinen Freund anrufen wollte, läutete das Telefon. Kai war am Apparat.
»Hast du es gesehen?« Er atmete schnell und seine Stimme vibrierte vor Aufregung.
»Und wie ich es gesehen habe. Ist das geil!«
»Wie schnell kannst du fertig sein?«
»Ich bin fertig!« Karl blickte auf seine Unterhose. »Ich bin fertig, wenn du da bist. Hast du das Auto?«
»Alles organisiert. Nach Rostock sind’s eineinhalb Stunden. Aber was machen wir, wenn die Sache länger dauert? Morgen ist Schule.«
Karl grinste. »Scheiß auf die Schule!«
18 JAHRE SPÄTER – DONNERSTAG, 14. OKTOBER 2010
Die Wohnung in der Großstadt befand sich in einem der schmucklosen Häuser, die man nach dem Krieg dank »Großsiedlungsbau« aus dem Boden gestampft hatte, und die in ihrer Uniformität kaum zu überbieten waren. Kleine Fenster in niedrigen Räumen hinter ebenso kleinen Balkonen gaben den Bewohnern der Sozialwohnungen, die man in den Sechzigern und Siebzigern in Trabantenstädten am Rande der Ballungszentren zusammengepfercht hatte, unmissverständlich zu verstehen, dass sie Menschen zweiter Klasse waren.
Der Bestand von hunderttausend Wohnungen des staatlichen Konzerns »Neue Heimat« hatte sich damals in kürzester Zeit auf das Doppelte gesteigert. Die Profitgier der Verantwortlichen kannte keine Grenzen, denn mit der staatlichen Subventionierung war mit Immobilien in den sozialen Brennpunkten der Städte mehr Geld zu verdienen als mit Luxus-Villen und Golfplätzen. Als der »Spiegel« in den Achtzigern nachweisen konnte, dass sich der Vorstand des Konzerns über Jahre hinweg an den Mieteinnahmen bereichert hatte, löste dies zwar einen großen Skandal aus, für die Betroffenen änderte sich aber letztendlich nichts.
Ironischerweise hatten einst die Nationalsozialisten bei ihrer Machtübernahme 1933 den Konzern aus enteignetem Gewerkschaftsbesitz gegründet und ihm 1939 den Namen »Neue Heimat« gegeben.
All das wusste Karl Rieger jedoch nicht, als er vor einigen Jahren diese Wohnung bezogen hatte. Hätte er es gewusst, hätte er die Wohnung deutlich mehr geschätzt und sich darin bestätigt gefühlt, dass wieder einmal eine starke nationalsozialistische Idee zur Verbesserung des Volkskörpers vom Geschwür des demokratisch-kapitalistischen Staates mit Füßen getreten worden war.
So aber war dieses dunkle Loch nur ein von dreckigen Ausländern verseuchtes, notwendiges Übel, das er zutiefst verabscheute.
Die Sonne war fast untergegangen, und der Computerbildschirm tauchte die Einzimmerwohnung in gespenstisches Licht. Der Computer stand an der Wand direkt unterhalb einer Hakenkreuzfahne. Ansonsten gab es kaum Wandschmuck, bis auf ein großes Banner, auf dem in Frakturschrift ein Zitat des einstigen Propagandaministers Joseph Goebbels prangte:
WIR DENKEN MIT UNSEREM BLUT!
Auf einem Sideboard waren fein säuberlich Bilderrahmen mit Porträts von Hitler, Himmler, Göring und Heß aufgereiht. Davor lag auf einem weinroten Samtkissen ein Offiziersdolch mit den SS-Runen. Überhaupt war jeder Gegenstand und jedes Foto mit Bedacht platziert, und auch die Nazi-Relikte und Spielzeugpanzer der deutschen Wehrmacht in einer Glasvitrine waren exakt symmetrisch ausgerichtet und vollkommen staubfrei.
Selbst seine Hemden hatte Karl Rieger ganz in soldatischer Tradition exakt im DIN A4-Format gefaltet und in den einzigen Schrank geschichtet. Eine Couch, ein Tisch, ein Bücherregal, das war alles. Der Raum wirkte durch die schlichte Ausstattung größer, als er eigentlich war.
In Jeans und Unterhemd saß Karl vor seinem Rechner und startete einen Videochat. Das tätowierte Hakenkreuz auf seinem Rücken, dessen Ausläufer bis auf die Schultern reichten, erwachte durch das Muskelspiel kurz zum Leben.
Sein Körper war immer noch durchtrainiert und sehnig. Längst hatte er den schwarzen Gürtel in Karate erreicht, aber bei Straßenkämpfen vertraute er lieber auf eine kurzläufige Schusswaffe, die er immer am Rücken im Hosenbund trug. Die Zeit, in der Karl dumpfe Krawallmache suchte, war allerdings vorbei. Er hatte längst eingesehen, dass es galt, strategischer und überlegter vorzugehen. In der Szene hörte man auf ihn. Er war ein geborener Anführer, einer, der andere für eine Sache begeistern konnte, einer, der durch seine Bildung und rhetorischen Fähigkeiten weit gefährlicher war als der Rest seiner braunen Clique.
Der Computer zeigte an, dass eine Anrufverbindung zu »Leitwolf« aufgebaut wurde. Die Webcam filmte so lange Karls Gesicht, der sein Spiegelbild ungewollt in Augenschein nahm.
Hackfresse, was willst du? Du siehst aus wie dreißig und hast immer noch keine Ahnung, wer du bist oder was du eigentlich willst. Der Knast hat dich weich werden lassen!
Ein Piepton signalisierte, dass »Leitwolf« das Gespräch angenommen hatte. Karls Gesicht schrumpfte und rutschte in die linke unter Ecke des Bildschirms, als »Leitwolf« erschien. Ein karger Mann um die fünfzig, dessen wenige Haare nicht der Gesinnung, sondern dem Alter geschuldet waren. Er trug ein blaues Hemd mit offenem Kragen und man konnte ihm förmlich ansehen, dass er sich soeben seiner Krawatte entledigt hatte. Sein schmales Gesicht wurde von einer schwarz geränderten Hornbrille dominiert, deren starke Gläser die Augen kleiner erscheinen ließen, als sie waren.
Er grinste über das ganze Gesicht, als er Karl sah. Seine Stimme