SPIEGLEIN politisches Jahrbuch 2020. Thomas Röper. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Röper
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Социология
Год издания: 0
isbn: 9783968500317
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sie eben entweder nicht mehr zur Wahl oder machen ihr Kreuz aus Protest bei der AfD, obwohl deren Parteiprogramm auch nicht gerade vor sozialen Komponenten strotzt. Viele lassen sich von den Medien einlullen und halten die Grünen für eine linke oder soziale Partei, dabei haben sie inzwischen weitgehend die Positionen der FDP übernommen und sind eine Partei der Besserverdiener geworden, die mit ihrem Kreuz ihr „soziales und grünes Gewissen“ beruhigen wollen. Außerdem gehen bei den Grünen die Dinge, die sie in der Tagesschau erzählen, und das, wofür sie dann abstimmen, weit auseinander. Aber die Medien lassen es der Partei durchgehen.

      Auch bei der nächsten Frage zeigte sich, dass die Deutschen keineswegs die Demokratie satt haben, sondern im Gegenteil mehr Demokratie wollen. 83,5 % wollten, dass der Bundestag durch Volksinitiativen dazu aufgefordert werden kann, sich mit bestimmten Themen zu befassen. 64,% befürworteten das Schweizer System der direkten Demokratie, in dem die Bürger Entscheidungen des Bundestages durch Volksentscheide ändern können.

      Das Hauptproblem der deutschen „parlamentarischen Parteiendemokratie“ ist ja, dass man vor der Wahl nicht weiß, wer am Ende mit wem eine Koalition eingeht und welche Themen dann tatsächlich umgesetzt werden. Man gibt also bei der Wahl seine Stimme ab und weiß im Grunde nicht, was man danach bekommt. 63,9 % der Deutschen wollten daher bei der Wahl auch gleich entscheiden können, wer mit wem danach die Regierung bildet.

      Danach kam die Umfrage wieder zur wirtschaftlichen Entwicklung, und auch hier fand sich eine große Diskrepanz zu dem, was wir in den Medien lesen und was die Menschen empfinden. Während die Medien vom „reichen Deutschland“ berichten und uns ständig damit glücklich machen wollen, dass die Wirtschaft wächst, kommt davon bei den Menschen nichts an. 65,4 % sind der Meinung, dass die Menschen von der „guten wirtschaftlichen Entwicklung nicht profitiert“ haben.

      Dass all diese Dinge am Ende die Gesellschaft spalten, kann nicht überraschen. Und so beklagten 75,9 % der Deutschen, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt zurückgegangen ist. Dieser Punkt ist auch überhaupt nicht strittig. In allen Bevölkerungsgruppen, nach denen die Umfrage differenziert hat, beklagten das zwischen 67 % und 85 %. Noch vor wenigen Jahren wurde in Deutschland von einer „Solidargemeinschaft“ unserer Gesellschaft gesprochen. Diese Zahlen zeigen, dass dies inzwischen nicht mehr zutrifft. Der Sozialstaat, der der Spaltung der Gesellschaft entgegenwirken sollte, hat inzwischen auf ganzer Linie versagt.

      Wenn man sich die Gründe für diese Entwicklung anschaut, kann man das als Gesellschaftskritik ansehen. Der von Medien und Politik propagierte „Individualismus“ führt dazu, dass die Menschen ihre eigenen Bedürfnisse über die Bedürfnisse der Gemeinschaft stellen, er führt zu Egoismus. Unglaubliche 90,4 % der Deutschen sahen in der Tatsache, dass „Egoismus mehr gilt als Solidarität“ den Grund für den „schwindenden Zusammenhalt“ der Gesellschaft.

      Ein weiteres Problem ist die „Ghettobildung“, so will ich es einmal nennen. Dadurch, dass der Preis für Wohnraum sich inzwischen so entwickelt hat, dass die verschiedenen Einkommensschichten auch geografisch getrennt leben, bleiben die „Schichten“ unter sich. Die Umfrage stellt fest, dass 66,4 % als Grund für den „schwindenden Zusammenhalt“ der Gesellschaft angegeben haben, dass die „Schichten“ nur noch „wenig zusammenkommen“.

      Und obwohl Medien und Politik uns die Globalisierung mit aller Macht als etwas ganz Tolles verkaufen wollen, sehen 57,2 % der Menschen in der Globalisierung einen Grund für den „schwindenden Zusammenhalt“ der Gesellschaft. 49,3 % sehen den Grund in den „zu vielen Zuwanderern“. Bemerkenswert hierbei ist, dass ausgerechnet Menschen mit Migrationshintergrund dieser These mit 60,1 % weit mehr zugestimmt haben als Menschen ohne Migrationshintergrund.

      Allerdings ist die Zuwanderung ein wichtiges Thema, denn bei der Frage nach der Wahrnehmung sozialer Konflikte stand der Konflikt zwischen den Unterstützern und den Gegnern der Zuwanderung mit weitem Abstand mit 90,3 % auf dem ersten Platz. Auf Platz zwei folgte mit 72 % der Konflikt zwischen Arm und Reich, was erneut alle meine Ausführungen zur Spaltung in Deutschland bestätigt. Der Konflikt zwischen Ost- und Westdeutschen zum Beispiel lag mit 38,2 % nur auf Platz vier.

      Man sieht, dass die Umfrage ein sehr trauriges Bild der Lage in Deutschland zeichnet. Aber im Spiegel war die Umfrage der Redaktion nur sechs kurze Absätze wert, in denen der Leser de facto keinerlei Informationen bekam. Außer der Tatsache, dass weniger als 50 % der Deutschen mit der Demokratie in Deutschland zufrieden sind, hat der Spiegel-Leser nichts erfahren. Kein Wort über die Gründe und Details.

      Was der Spiegel ebenfalls verschwiegen hat, steht am Ende der Umfrage im letzten Kapitel:

      „Unsere Umfrage hat ergeben, dass im Frühjahr 2019 nur noch eine Minderheit von 46,6 Prozent der wahlberechtigten Staatsbürger-innen mit dem Funktionieren der Demokratie in Deutschland zufrieden war. Dies ist ein deutlicher Rückgang gegenüber dem Durchschnittswert von etwa 60 Prozent, den die Demokratiezufriedenheit nach der deutschen Einheit (im Zeitraum 1991 bis 2017) erreichte.“

      Die Tendenz ist also erschreckend, und das, obwohl die wirtschaftliche Entwicklung der letzten Jahre gut war. Das bestätigt erneut die These, dass die Hurra-Meldungen aus Politik und Medien über das „reiche Deutschland“ und die „wirtschaftlichen Erfolge“ der letzten Jahre nichts mit der Lebensrealität der Menschen im Lande zu tun haben.

      Ich muss ganz ehrlich sagen, dass mich das ein wenig an die letzten Jahre der DDR erinnert. Dort haben die Medien auch nur die Parolen über „Erfolge“ verkündet. Über die Probleme wurde in der DDR nicht berichtet, und auch der Spiegel hat hier in seinem sehr kurzen Artikel über eine interessante Umfrage die wirklichen Probleme, die die Umfrage aufgezeigt hat, also die Spaltung der Gesellschaft und die Frustration und Perspektivlosigkeit der „kleinen Leute“, nicht einmal erwähnt.

      Aus vielen Gesprächen mit „Ossis“, die die Wende bewusst miterlebt haben, weiß ich, dass bei vielen von ihnen Erinnerungen an damals hochkommen und sie die „Berichterstattung“ der „Qualitätsmedien“ stark an „Aktuelle Kamera“ und „Schwarzen Kanal“ erinnert.

      Artikel wie dieser im Spiegel unterscheiden sich tatsächlich nicht mehr davon. Ende der 1980er Jahre bemerkten 70 bis 80 % der DDR-Bürger im Alltag, dass die Nachrichten nicht mehr zum täglichen Erleben passten. Die gleiche Tendenz sehen wir heute auch in Deutschland. Ob Politik und Medien wohl etwas ändern? Oder braucht es wieder Montagsdemonstrationen, wie 1989 in Leipzig, damit sich etwas ändert?

      Hoffnung habe ich aber ehrlich gesagt nicht, denn das Beispiel der Gelbwesten hat gezeigt, dass die westlichen Demokratien solche Demonstrationen mit einer Kombination aus langem Atem, verschärftem Demonstrationsrecht und massiver Polizeigewalt aussitzen.

      Wie Politik und Medien Altersarmut schönreden

      Im August fand ich einen Artikel bei Spiegel-Online, der mustergültig aufzeigte, wie weit sich Politik und Medien von den Menschen entfernt haben und wie die Medien versuchen, das zu kaschieren.

      Die Rentenreform aus der Schröder-Zeit wirkt sich immer deutlicher aus, und immer mehr Rentner spüren es am eigenen Leib. Solche Reformen werden derart gestaltet, dass ihre Auswirkungen erst nach Jahren spürbar werden. So auch hier: Als unter Schröder beschlossen wurde, das Renteneintrittsalter schrittweise auf 67 hochzusetzen, wurde das auf eine Weise umgesetzt, dass die volle Wucht der Reform erst nach 2025 spürbar wird. Die Verursacher der Reform sind bis dahin längst nicht mehr an der Macht.

      Mit der Erhöhung des Renteneintrittsalters wurde auch eine Rentenkürzung beschlossen, die ebenfalls schrittweise diejenigen trifft, die neu in Rente gehen. Die Reform betraf also nicht die damaligen Rentner, die Schröder ja bei einer Wahl hätten abstrafen können, sondern erst deren Kinder, die heute, über 15 Jahre später, und in den nächsten Jahren in Rente gehen.

      So werden Rentenreformen immer gemacht. Der Grund ist, dass man den Betroffenen Zeit geben will, privat vorzusorgen, um diese Lücke auszugleichen. Das ist natürlich einerseits fair, denn wer schon in Rente ist, kann nicht mehr vorsorgen.