Neuroanatomie. Markus Kipp. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Markus Kipp
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Медицина
Год издания: 0
isbn: 9783868675207
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Vorderstrang bzw. Seitenstrang. Es ist strittig, ob beide Faserbündel verschiedene sensible Qualitäten vermitteln, klinisch aber auch nicht wirklich relevant. Eine isolierte Läsion des anterioren oder lateralen Tractus spinothalamicus ist aufgrund ihrer engen räumlichen Beziehung extrem selten. Bei einer Beschädigung fallen demnach fast immer alle genannten Qualitäten aus oder sind zumindest stark eingeschränkt. Der Tractus spinothalamicus leitet die Informationen der protopathischen Sensibilität zum Thalamus. Von dort wird sie ebenfalls dem Gyrus postcentralis zugeleitet. Auch protopathische Impulse können bewusst wahrgenommen werden. Der Tractus spinothalamicus projiziert jedoch direkt oder indirekt auch auf andere wichtige neuronale Zentren, um den Körper z. B. bei starken Schmerzen in Alarmbereitschaft zu versetzen.

      Manchmal weiß das Gehirn nicht so richtig, wo Schmerz herkommt. Phantomschmerzen sind hier ein gutes Beispiel. Unter Phantomschmerz versteht man Schmerzen in einem Körperteil, der nicht mehr vorhanden ist, meist in Folge einer Amputation. Nach der Amputation spürt ein Großteil der Betroffenen weiterhin die nicht mehr vorhandene Extremität, beispielsweise seine Länge, den Umfang, oft auch eine bestimmte Haltung. Gelegentlich wird über nicht schmerzhafte Empfindungen, wie Kribbeln, Berührungsempfindungen oder Zucken berichtet. Etwa 60–80 % der Amputierten nehmen Schmerzen im amputierten Körperteil wahr. Früher ging man davon aus, dass sich Amputierte den Phantomschmerz „einbilden“. Schließlich war der Teil des Körpers nicht mehr vorhanden. Wie sollten dann Schmerzen spürbar sein? Heute glaubt man, dass Veränderungen wie beispielsweise eine schlechte Vernarbung im Stumpf eine Rolle spielen. Der Nerv bzw. die Nerven, welche für die sensible Versorgung der amputierten Extremität verantwortlich waren, werden in ihrem Verlauf durch das Narbengewebe gereizt. Nur kann das Gehirn nicht zuordnen, wo genau die Reizung stattfindet. Es geht weiter davon aus, dass diese Nerven an ihrem physiologischen Ende gereizt werden, also im Bereich des Amputats. Deswegen wird Schmerz im amputierten Körperteil wahrgenommen, obwohl es gar nicht mehr da ist.

      Ganz ähnlich verhält es sich mit den Head’schen Zonen. Die Head-Zone, benannt nach dem englischen Neurologen Sir Henry Head (1861–1940), wird als ein Hautareal definiert, in dem aufgrund des metameren Körperaufbaus eine Beziehung zu bestimmten inneren Organen besteht. Bei einem Herzinfarkt beispielsweise verspüren Patienten oft Schmerzen im Bereich des linken Schulterblattes bzw. des linken Armes. Grundlage hierfür sind „falsche“ nervale Verschaltungen. Sensible Impulse aus dem Herz treten gemeinsam mit sensiblen Impulsen des Armes und der Schulter in das Rückenmark ein und aktivieren sensible Nervenzellen des Hinterhorns. Von dort ziehen die Impulse weiter zur sensiblen Hirnrinde. Ähnlich wie beim Phantomschmerz weiß das Gehirn nicht mehr, woher der Schmerz eigentlich kommt und nimmt fälschlicherweise an, die sensiblen Impulse des Herzens stammen aus der linken oberen Extremität. Man spricht hier auch von neuronaler Konvergenz: Mehrere verschiedene Signale konvergieren auf eine Gruppe von Nervenzellen. Für viele verschiedene innere Organe sind heute Head’sche Zonen bekannt, nicht nur für das Herz.

      An dieser Stelle soll schon darauf hingewiesen werden, dass nicht die gesamte propriozeptive Information über den Tractus spinocerebellaris anterior et posterior geleitet wird. Wie erwähnt, enden beide Fasertrakte im Kleinhirn und können somit prinzipiell nicht bewusst wahrgenommen werden. Nur Afferenzen, die im Kortex des Großhirns enden, werden bewusst! Wir wissen jedoch, dass wir sehr wohl die Lage und Stellung der Gelenke, also die Propriozeption, bewusst wahrnehmen und auch wiedergeben können. Testen Sie dies einfach einmal an einem Freiwilligen. Er soll die Augen schließen und die Hand ausstrecken. Als Untersucher fassen Sie den Zeigefinger und bewegen ihn nur ein wenig nach oben oder unten. Ist ihr Proband gesund, wird er Ihnen sagen können, ob Sie den Finger nach oben oder unten bewegt haben. Das ist bewusst wahrgenommene Propriozeption. Der Grund dafür, dass wir dies für gewöhnlich wahrnehmen können liegt darin, dass ein Teil der propriozeptiven Information über die Hinterstränge nach oben steigt und somit über den Thalamus dem Kortex zugeleitet wird.

      Als letzte aufsteigende Bahn ist in Abb. 3.8 noch der Tractus spinoolivaris gezeigt. Dieser Fasertrakt ist auch in die Funktion des Kleinhirns eingebettet, soll aber hier nicht weiter besprochen werden.

      Den prinzipiellen Aufbau von Spinalnerven betrachtet man am besten anhand eines Querschnitts auf Höhe des thorakalen Rückenmarks.

      Bisher müsste Ihnen das bekannt vorgekommen sein, jetzt wird es aber spannend. Nach einer kurzen Strecke teilt sich jeder Spinalnerv in einen nach dorsal gerichteten Ramus dorsalis für die Versorgung der wirbelsäulennahen Haut und Muskulatur (der autochthonen Rückenmuskulatur) und einen nach ventral gerichteten Ramus ventralis auf, der für die Versorgung der Haut und Muskulatur des wirbelsäulenfernen Rückens sowie der seitlichen und bauchseitigen Körperabschnitte zuständig ist. Da auf Höhe der Brustwirbelsäule die Rami ventrales zwischen den Rippen verlaufen, werden sie auch Nervi intercostales genannt. Zwei weitere Zweige der Spinalnerven werden Ramus communicans albus et griseus genannt. Sie dienen der Weiterleitung viszero-efferenter (vizero-motorischer) Informationen (siehe auch Kapitel 5 über Hirnnerven). Das von einem Spinalnerven versorgte und somit von einem einzigen Rückenmarksegment innervierte Hautgebiet bezeichnet man als Dermatom, die versorgten Muskeln als Myotom.

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      Auf Höhe des thorakalen Rückenmarks kann man in der grauen Substanz beidseits drei Hörner erkennen: Cornu anterius, posterius und laterale. Letzteres steht funktionell mit dem vegetativen Nervensystem in Verbindung. Die Spinalnerven teilen sich unmittelbar nach ihrem Durchtritt durch das Foramen intervertebrale in einen Ramus ventralis und einen Ramus dorsalis auf. Beides sind gemischte Nerven, transportieren also motorische und sensible Informationen. Der Ramus dorsalis innerviert die dorsale (autochthone) Rückenmuskulatur und mit seinen Endästen die diese bedeckende Haut. Der Ramus ventralis zieht als