„Ganz genau.“ Ituma beugte sich ein wenig vor und senkte verschwörerisch die Stimme. „Dieses Gleichnis zeigt die Menschen, wie sie wirklich sind. Sie glauben, dass sie alles wissen, aber in Wahrheit verstehen sie nur einen winzigen Bruchteil alles Möglichen.
Aber ihr – ihr habt daran geglaubt, dass es jenseits der Schatten noch eine andere Welt gibt. Eine Welt voller Farben und scharfer Konturen. Und deshalb seid ihr hier. Deshalb sind wir hier. Unsere Aufgabe ist es, den Menschen diese Welt wieder zu zeigen. Diese Welt, von der sie sich vor so langer Zeit abgewandt haben.
Aber um diese Welt zu sehen, müssen sie sich erst gegenseitig sehen. Denn einer allein kann keine großen Veränderungen vollbringen. Aber wenn die Menschen sich nicht mehr nur mit Hass und Neid begegnen, wenn sie aneinander glauben und sich aufmachen, die vollkommene Welt zu suchen, dann wird sie auch das grelle Licht nicht mehr aufhalten.“ Ihre stechenden, grünen Augen wanderten von einem Schüler zum nächsten. „Und es ist unsere Aufgabe, die Menschen auf diesen Weg zu führen.“
Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: „Ich weiß, dass es jetzt gerade nicht leicht für euch ist, ich weiß, dass ihr eure Familien vermisst und euch erst noch an eure Gaben gewöhnen müsst. Aber denkt doch nur mal daran, wie viel Gutes ihr mit euren Fähigkeiten tun könnt! Ihr habt die Möglichkeit, von der so viele andere nur träumen: Ihr könnt dabei mithelfen, die Welt zu verändern!“
Ituma schwieg einige Sekunden und ließ ihre Worte wirken. Felicitas starrte ihre Lehrerin an, ohne sie wirklich zu sehen. So vieles ging ihr in diesem Moment durch den Kopf, und doch wollte es ihr nicht gelingen, einen ihrer Gedanken festzuhalten.
Schließlich stand Ituma auf, wieder ihr aufgesetztes Lächeln auf den Lippen. „Ich glaube, für heute habe ich euch genügend Stoff zum Nachdenken gegeben.“ Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr.
„Es ist jetzt elf. Eure nächste Unterrichtsstunde beginnt um halb zwölf, ihr habt also eine halbe Stunde Zeit. Seid aber bitte pünktlich wieder im Klassenzimmer.“ Sie nickte ihren Schülern noch einmal zu, dann drehte sie sich um und eilte zur Tür hinaus. Zurück blieb ein Raum voller Schweigen und Unsicherheit.
„Das kann doch nicht sein.“ Christianes Stimme klang hell und dünn. „Warum sollten wir irgendeine besondere Aufgabe haben? Warum gerade wir?“ Felicitas konnte nicht anders, als das junge Mädchen dafür zu bewundern, dass es das aussprach, was vermutlich alle gerade dachten.
„Wer weiß?“ July betrachtete ihre Nägel. „Inzwischen halte ich nichts mehr für unmöglich.“
Dann herrschte wieder Schweigen. Felicitas starrte auf den Boden, Ailina spielte mit dem Anhänger ihrer Kette, Jessy wickelte sich eine Strähne ihrer Locken um den Finger.
„Ich will nach Hause“, flüsterte Christiane plötzlich.
„Meinst du, wir nicht?“, fuhr July sie an. Christiane zuckte zusammen, als hätte man sie geschlagen.
„Wir sitzen alle im selben Boot“, erklärte Ailina ruhig, „und im Moment bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als das hier einfach durchzustehen.“
„Also, ich finde es ganz cool.“ Alex verschränkte die Hände hinter dem Kopf. „Ich meine, keine Eltern, die einem ständig alles verbieten, keine langweiligen Mathestunden mehr ... stattdessen werden wir lernen, die Gefühle von anderen Menschen zu spüren und Gegenstände aus dem Nichts zu erschaffen!“
„Das ist nicht richtig.“ Felicitas war selbst überrascht, wie fest ihre Stimme klang. Sofort richteten sich alle Augen auf sie. „Es ist nicht richtig, dass wir das lernen.“
„Besser als Mathe“, entschied Alex, stand auf und streckte sich. „Ich weiß ja nicht, was ihr in den zwanzig Minuten noch vorhabt, aber ich bleibe nicht die ganze Zeit in diesem stickigen Klassenzimmer.“ Er schenkte seinen Mitschülern noch ein gnädiges Nicken, bevor er aus dem Raum schritt.
„Alex hat recht.“ Nun erhoben sich auch July, Jessy und schließlich Leo und Simon.
Auf einmal waren Christiane, Ailina und Felicitas alleine.
Felicitas hatte keine Lust, nach draußen zu gehen, in die dunklen Gänge. Also blieb sie sitzen, starrte in das kleine Kaminfeuer und dachte über das nach, was Ituma ihnen eben erzählt hatte.
*
Unterricht
Mir leuchteten viele Kerzen, die die Dunkelheit vertrieben. Doch sie sind alle erloschen in dem starken Sturm. Wie hatte ich auch geglaubt, ihm standhalten zu können?
Die anderen kamen um kurz vor halb zwölf. Schon von Weitem konnte man Leo hören.
„Kennt ihr den Witz mit der Blondine und der Mauer?“ Seine Stimme hallte in den Korridoren seltsam wider. „Eine Blondine lehnt sich gegen eine Mauer. Die Mauer fällt um. Warum?“
„Weil der Klügere nachgibt!“, rief Jessy und lachte. Etwas zu laut.
July führte den kleinen Trupp ins Klassenzimmer an. Als ihr Blick kurz den von Felicitas traf, verdrehte sie die Augen und strich sich mit einer eleganten Bewegung eine Strähne ihres blonden Haares hinters Ohr.
„Eine Blondine und eine Brünette springen aus dem Hochhaus. Wer ist schneller unten?“, fragte Leo in die Runde. Er wartete gar nicht erst auf eine Antwort. „Die Brünette, weil die Blondine erst nach dem Weg fragen muss!“ Er prustete laut los. Julys Mundwinkel zuckten verräterisch. Die anderen Schüler waren alle zu angespannt, um zu lachen.
Als sich die Tür öffnete, ging Leos Lachen in ein unkontrolliertes Husten über. Eine große, schlanke Frau betrat das Klassenzimmer. Sie hatte schulterlanges, blondes Haar, das von lila und pinkfarbenen Strähnen durchzogen wurde. Dazu trug sie ein langes rotes Kleid und hohe Schuhe. July starrte sie entsetzt an.
„Wenn das unsere Lehrerin ist, fresse ich einen Besen“, murmelte Jessy deutlich hörbar in die entstandene Stille.
„Dann wünsche ich dir einen guten Appetit.“ Die Frau nickte Jessy freundlich zu.
Jessy wurde blass und sagte erst einmal nichts mehr. Der pinkfarbene Mund der Lehrerin verzog sich zu einem Lächeln und sie zog die Tür hinter sich zu. Die Blicke der Schüler folgten ihr, als sie durch den Raum schritt.
„Erst einmal: Herzlich willkommen an unserer Schule!“ Sie schenkte jedem einen kurzen Blick. „Mein Name ist Amitola und ich werde in der nächsten Zeit eure Lehrerin in Gefühl sein.“
Sie machte eine kurze Pause, bevor sie fortfuhr. „Ich habe eure Namen schon bekommen, mal sehen, ob ich sie mir gemerkt habe.“ Sie richtete ihren Blick auf Alex. „Alex“, sagte sie, „Leo, Simon, July, Christiane, Jessy, Felicitas, Ailina. Richtig?”
Die Schüler nickten.
„Okay ... ich bin mir sicher, Ituma hat euch bereits etwas über die Drei Ebenen erzählt? Materie, Gefühl, Traum?“
Wieder allgemeines Nicken.
„Gut. Wir werden uns in der nächsten Zeit etwas ausführlicher mit der zweiten Ebene, der Ebene der Gefühle auseinandersetzen.“ Sie schwieg kurz, bevor sie fragte: „Kann mir jemand in diesem Raum erklären, was Gefühle sind?“
Sie sah auffordernd in die Runde, doch niemand machte Anstalten, etwas zu sagen.
Amitola lächelte. „Wie ihr seht, haben wir es mit einem sehr komplexen Thema zu tun. Denn Gefühle kann man schwer definieren. Jeder empfindet sie anders. Und dennoch müssen wir uns intensiv mit ihnen beschäftigen und versuchen, diese für uns fremde Welt zu verstehen.“
„Wieso können wir die Gefühle von anderen Menschen wahrnehmen, wenn wir sie berühren?“, wollte Jessy auf einmal wissen.
„Weil Gefühle in einer