Die Chroniken der Wandler. Laura Schmolke. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Laura Schmolke
Издательство: Bookwire
Серия: Die Chroniken der Wandler
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783960741732
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      Sie nickte den Schülern noch einmal zu, dann drehte sie sich um und schritt zurück zum Tisch der Lehrer. Felicitas sah ihr nach. Dabei fiel ihr die Art auf, wie Ituma sich bewegte, ihre leicht gebückte und doch Ehrfurcht einflößende Haltung.

      Felicitas' Blick schweifte durch die Halle, blieb an Enapay hängen und wanderte dann weiter an den Lehrern entlang. Einige von ihnen wirkten noch ziemlich jung, höchstens zwei Jahre älter als Felicitas selber. Andere hingegen hatten ihre besten Jahre schon längst überschritten.

      Felicitas ertappte sich dabei, wie sie sich fragte, was sie wohl schon erlebt hatten. Was man überhaupt so erlebte als Wandler. Fand man sich irgendwann mit seinem Schicksal ab und dachte gar nicht mehr daran, ein normales Leben zu führen? Hatten Wandler Familien? Sie konnte sich kaum vorstellen, dass Enapay eine Frau hatte oder Kinder.

      „Hat man so was schon gesehen? Die schläft mit offenen Augen!“ Wie aus weiter Ferne drang Jessys Stimme in Felicitas' Bewusstsein. Dann sah sie plötzlich die Hand, die vor ihrem Gesicht herumwedelte. Jessy lachte. July, Alex und Leo lachten. Felicitas starrte auf ihren Teller und spürte, dass ihr Gesicht anfing zu glühen. Wahrscheinlich wurde sie gerade feuerrot.

      Nachdem sie alle fertig gegessen hatten, eilten die acht Schüler die Treppe hinauf und dann den Gang entlang.

      Als sie das Klassenzimmer betraten, wartete Ituma bereits. Die Lehrerin hatte wieder ihr übertriebenes Lächeln aufgesetzt und bedeutete ihrer Klasse mit einer Handbewegung, Platz zu nehmen.

      „Guten Abend“, grüßte sie noch einmal, „ich hoffe, ihr habt alle gut geschlafen?“ Sie blickte fragend in die Runde, doch niemand antwortete ihr. Ituma schien das nicht wirklich zu stören. Sie ging einmal um den Kreis aus Stühlen herum, um sich dann auf den freien Platz zwischen July und Simon zu setzen.

      „Philosophie“, sagte sie dann und ließ das Wort im Raum verklingen. „Was stellt ihr euch darunter vor?“ Wieder wanderte ihr stechender Blick von einem Schüler zum nächsten. Niemand machte Anstalten, irgendetwas zu sagen. July zupfte ihr knappes Top zurecht, Jessy spielte mit einer Locke ihrer roten Haare und Simon starrte teilnahmslos auf den Boden. „Alex“, sagte Ituma plötzlich, „hast du eine Idee?“

      Der Junge räusperte sich. „Ähm, Philosophen, das sind doch die, die so ewig lange Texte schreiben, die keiner versteht, oder?“

      Ituma sah ihn einen Augenblick lang ausdruckslos an. „Es ist in der Tat schwer, philosophische Texte zu verstehen“, gab sie schließlich zu. „Man muss sich dafür eingehend mit ihnen beschäftigen.“

      „Aber das machen wir hier doch nicht, oder?“ Leo verdrehte die Augen. „Ich meine, wenn ich schon mal hier bin, dann will ich auch etwas Wichtiges lernen, zum Beispiel, wie ich meine Gaben beherrschen kann, und nicht irgendwelche Texte analysieren!“

      „So?“ Ituma zog eine Augenbraue hoch. „Und wenn ich dir nun sage, dass du deine Gaben nie beherrschen wirst, wenn du dich nicht mit entscheidenden Fragen auseinandersetzt? Mit philosophischen Fragen? Du kannst deine Kräfte und die Drei Ebenen nicht verstehen, wenn du dich nicht bemühst, die Philosophie zu verstehen.“

      „Was hat die Philosophie denn mit unseren Fähigkeiten zu tun?“, fragte Jessy vorsichtig.

      „Vieles.“ Ituma lächelte geheimnisvoll. „Es gibt die Physik, mit ihr lässt sich vieles erklären. Die Gesetze der Natur, ja, sogar die Entstehung unseres Universums. Doch es gibt auch Dinge jenseits unserer Vorstellungskraft – und somit jenseits alles Messbarem, jenseits der Physik. Und da kommt die Philosophie ins Spiel. Was kommt nach dem Tod? Was ist Gerechtigkeit? Wo liegt die Grenze zwischen Gut und Böse und was ist der Sinn des Lebens?

      Das sind Fragen, auf die es keine eindeutigen Antworten gibt. Das sind philosophische Fragen, Fragen, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen. Denn was bringt es mir, kämpfen zu können, wenn ich nicht weiß, wofür ich kämpfen will?“

      „Ja, ja, schon“, unterbrach July ungeduldig, „aber was ist Philosophie?“

      „In der Philosophie sind all die Dinge zusammengefasst, all die Fragen, auf die es keine eindeutige Antwort gibt. Philosophen versuchen, die menschliche Existenz zu verstehen, versuchen, die Antworten zu finden, die die Naturwissenschaften uns nie werden liefern können. Die Ethik zum Beispiel ist nur ein kleiner Teil der Philosophie.“

      Ituma verstummte und ließ den Schülern ein wenig Zeit, um über ihre Worte nachzudenken.

      „Als Einführung in die Welt der Philosophie möchte ich mit euch über ein philosophisches Gleichnis sprechen, das ihr vermutlich alle kennt: über das Höhlengleichnis von Platon. Wer kann kurz zusammenfassen, worum es darin geht?“

      Einige Augenblicke lang herrschte Schweigen.

      „Es geht um Menschen, die nebeneinander angekettet in einer Höhle sitzen“, erklärte Ailina schließlich. „Sie sehen nur die Wand vor sich und die Schatten, die sich darauf bewegen. Sie gehen davon aus, dass das die ganze Welt ist. Platon fragt nun, was geschehen würde, wenn einer von ihnen die Höhle verlassen könnte. Das Licht draußen würde ihn blenden, aber wenn sich seine Augen daran gewöhnen würden, sähe er zum ersten Mal in seinem Leben Farben und scharfe Konturen.“

      Ailina spielte mit dem Anhänger ihrer Kette. „Er könnte jetzt draußen bleiben oder aber zurückgehen, um den anderen Menschen, die noch in der Höhle sind, klarzumachen, dass die Schattenbilder nur Nachahmungen des Wirklichen sind. Aber die anderen würden ihm nicht glauben. Eher würden sie ihn umbringen.“ Ihre Stimme war immer leiser geworden, bis sie schließlich kaum mehr war als ein Flüstern.

      „Genau.“ Ituma nickte. „Ich möchte jetzt“, sie erhob sich und holte ein paar Stifte und Papier von der Fensterbank, „dass jeder von euch seine Gedanken zu dem Höhlengleichnis aufschreibt. Es muss nicht viel sein, ein paar Worte genügen.“ Sie verteilte die Schreibutensilien.

      Eine gefühlte Ewigkeit lang starrte Felicitas auf das leere Blatt auf ihrem Schoß.

      Menschen haben Angst vor Dingen, die sie nicht kennen, schrieb sie schließlich. Mehr nicht. Dabei ging ihr so viel durch den Kopf. Wieso hatte Ituma ausgerechnet das Höhlengleichnis als Einstieg ausgesucht? Erwartete sie von ihnen, dass sie etwas Bestimmtes herauslasen? Felicitas sah ihre Lehrerin scheu an, doch Itumas Blick war vollkommen ausdruckslos. Woran sie wohl gerade dachte?

      Felicitas zwang sich, ihre Konzentration wieder auf ihre Aufgabe zu richten. Das Höhlengleichnis. Enapay hatte ihr erzählt, dass sie besondere Gaben besaß, dass sie die Drei Ebenen nicht nur verstehen, sondern auch beherrschen konnte. Die Drei Ebenen: Materie, Gefühl und Traum. Sie konnte Menschen verletzen, nur indem sie diese berührte, und da sollte sie sich jetzt mit dem Höhlengleichnis von Platon beschäftigen anstatt damit, ihre Gaben endlich in den Griff zu bekommen?

      „Ihr macht den Eindruck, als wärt ihr fertig.“ Itumas Stimme riss Felicitas aus ihren Gedanken. „Wer möchte beginnen und uns seine Überlegungen mitteilen?“

      Als sich niemand freiwillig meldete, richtete sich Itumas Blick auf Felicitas. „Wie wäre es mit dir?“

      „Ja, ähm, also ...“ Felicitas starrte auf ihr Blatt. „Ich habe mir gedacht, dass das Gleichnis vielleicht aussagt, dass ... Menschen Angst haben vor Dingen, die sie nicht kennen?“

      Ituma setzte wieder ihr übertriebenes Lächeln auf. „Wie kommst du darauf?“

      „Na ja ... sie sehen nur die Schatten an den Wänden und denken, sie sind ihre Wirklichkeit, das Einzige, was es gibt. Als sie dann erfahren, dass die wirkliche Welt außerhalb ihrer Höhle existiert, wollen sie das nicht glauben ...“ Felicitas sprach leise.

      „Vielleicht wollen sie es ja gar nicht glauben, weil sie Angst davor haben?“

      „Sie wollen ihr Leben fortführen wie bisher“, warf July ein, „und haben Angst vor einer Veränderung.“

      Ituma nickte. „Was meinst du dazu, Simon?“

      „Sie ... glauben,