Der Blick, mit dem Tran bedacht wurde, war eiskalt, aber Ana nickte. „In Ordnung. Bist du hier die Anführerin?“
Sie widerstand dem Drang, mit den Augen zu rollen und antwortete genervt: „Eher die Einheimische, eine Anführerin gibt es nicht.“
Da keine Erwiderung von Ana kam, drehte Tran sich um und schaute Kath an, wie es der Rest schon die ganze Zeit tat. Kath sagte immer, wo sie als Nächstes hingehen sollten oder was sie jetzt machen könnten – also eigentlich war sie die Anführerin, aber das musste diese Ana ja nicht wissen. Katherine lächelte schief und sagte: „Mir wäre jetzt erst einmal nach einem Drink.“
Als Tran einen Blick zurückwarf, sah sie, dass Ana grinste.
Im Pub war schon einiges los und Tran dachte bei sich, dass die Besitzer Lilly damals sicherlich auch unterstützt hatten, denn im Sommer florierte ihr Geschäft natürlich noch mehr. Sie bestellte sich ein Colabier und schmiegte sich wieder an Eric. Er erzählte dem Tisch gerade, wie seine kleine Schwester ihm den letzten Nerv raubte, indem sie ihn entweder in seinem Zimmer einsperrte oder seine Hausaufgaben mit Wasser übergoss. Sie alle mussten lachen, als Philipp die Szenen nachspielte, von denen sein Bruder berichtete.
So ging es den ganzen Nachmittag, bis Tran einschritt, als sie sah, dass Ana sich bereits das fünfte Bier bestellen wollte.
„Kommt, lasst uns zu unserem Platz gehen und ein Lagerfeuer anmachen. Dann holen wir Marshmallows und machen es uns gemütlich.“ Der Vorschlag traf überall auf Zustimmung außer bei Ana, was sie allerdings nicht kümmerte.
Sie teilten sich vor dem Pub auf. Marina und Melissa gingen zu Haus sieben zurück und holten ihren Mitbewohnern ein paar Sachen, die diese haben wollten. Philipp und Katherina marschierten zu ihrem Zuhause, um Holz für das Feuer zu holen, Tran machte sich mit Vici zu ihrem Wohnwagen auf, um die Zwei-Kilo-Tüte Marshmallows, die Tran erst vor Kurzem gekauft hatte, herbeizuschaffen, und Eric wanderte mit den Übrigen schon einmal auf die Wiese zu ihrem Platz. Es gab einen kleinen Lagerplatz auf den Wiesen, der von etwas Gestrüpp und halb verfallenen Mauern, die die Landschaft hier prägten, umgeben war, sodass man dort unbehelligt feiern konnte. Nur ein paar Meter weiter standen die Schafe des Dorfes und weideten.
Auf dem Weg zu ihrem Wohnwagen, als sie gerade an der großen Kirche St. Patrick vorbeigingen, rief Lilly nach ihnen. „Transca, Victoria, wartet mal kurz!“ Sie drehten sich um und sahen die Leiterin der Feriensiedlung auf sich zueilen. „Ich muss mit euch reden. Könnt ihr eurer Gruppe Bescheid sagen, dass wir jeden Dienstag einen Karaoke-Abend im Pub machen? Ich habe gerade das Einverständnis von George bekommen. Das wird so ein Spaß!“, teilte sie den beiden Mädchen etwas atemlos mit. Sie grinste sie breit an, als diese nickten, warf ihnen Luftküsse zu und verschwand dann in die andere Richtung.
Die Mädchen schauten einander an und fingen gleichzeitig an zu lachen. Lilly war einfach drollig. Sie schlenderten an der St.-Patricks-Kirche vorbei und kamen bald am Wohnwagen an. Dort suchte Tran erst mal die Marshmallows, denn Robin hatte sie wieder verlegt. Als sie sie gefunden hatte, trat sie wieder zu Vici. Diese nahm ihr schweigend ein paar Tüten ab und sie gingen gemeinsam hinaus auf die Wiesen, wo versteckt hinter einer hohen Hecke der Lagerplatz war. Die anderen waren bereits vollzählig versammelt und das Feuer loderte schon.
„Hier kommt euer Essen, leider nicht auf Rädern, aber auf Beinen“, rief Vici.
Sie lachten und machten sich über die Marshmallows her. Anschließend kuschelten sie sich unter ein paar Decken zusammen und redeten.
Es kann einem wohl seltsam erscheinen, dass so viel geredet wurde, aber man muss sich ins Gedächtnis zurückrufen, dass die Freunde sich seit einem Jahr nicht gesehen hatten, und auch die Neuankömmlinge mussten natürlich von sich und ihrem Leben erzählen. Erst als es schon lange Zeit dunkel war, kam Tran dazu, ihnen die Nachricht von Lilly zu übermitteln. Und prompt ging das Gestöhne los. Karaoke-Abende waren anscheinend für Victoria und Lysana total schlimm und peinlich, dabei wussten sie nicht einmal, dass es bei solchen Veranstaltungen eine Liveband gab, der Text von einfachen Blättern abgelesen und bloß Volksmusik und Irish Folk gespielt wurde. Als Caroline und Katherina es ihnen schließlich erzählten, wurde die Verzweiflung bei Lysana nur noch größer, doch seltsamerweise schien diese Neuigkeit Victoria kaum zu schocken.
Daraufhin wurden Kath und Tran gebeten, ein paar dieser Volkslieder mit ihnen zu singen, damit sie alle etwas üben konnten. Die beiden dachten nach und entschieden sich dann für Whiskey in the Jar, das ziemlich bekannt war, und alle stimmten nach kurzem Zögern ein. Lauthals singend saßen sie an einem Lagerfeuer mitten in der Wildnis und genossen den Sommer.
Tran merkte allerdings, dass Vici, die neben ihr saß, nicht mit einstimmte, sondern lediglich den Mund bewegte. Sie runzelte die Stirn und beschloss, sie darauf anzusprechen. Man hörte den Einzelnen doch nicht heraus, wieso also sollte sie sich schämen?
Die Stimmung hatte sich durch die Einlage beträchtlich gebessert und sie gingen zum Witzeerzählen über. Tran lag an Eric gelehnt da und fühlte sich im Kreis ihrer Freunde geborgen und wohl. Doch dann schob sich ein Paar grüner Augen in ihre Gedanken und sie wollte nichts sehnlicher, als dass Sirman hier zwischen ihren Freunden saß und sie sich an ihn lehnen konnte. Nicht, dass Eric nicht eine gute Alternative war, aber er war eben bloß ihr Kumpel. Bestürzt bemerkte sie, dass sie nicht mehr in ihn verliebt war. Dieses Gefühl war so sehr Teil von ihr geworden, dass sie sich automatisch eingebildet hatte, es noch immer zu besitzen, doch dem war nicht so.
Sie spürte kein Kribbeln mehr auf der Haut, wenn er sie berührte, und hatte keine Schmetterlinge im Bauch, wenn sie ihn sah oder nur an ihn dachte. Doch nach der Bestürzung darüber befiel sie Erleichterung, denn es war um einiges angenehmer, ohne dieses Gefühl zu leben.
Mit Sirman war das etwas ganz anderes, denn seine Berührung verursachte nicht nur ein Kribbeln, sondern ein Brennen. Und sie hatte keine Schmetterlinge im Bauch, sondern Raketen. War das zu glauben? Sie hatte sich Hals über Kopf in einen Jungen verliebt, mit dem sie höchstens eine Stunde verbracht hatte, aber sie spürte einfach tief in sich drin, dass er der Richtige war. Sie fing leicht an zu zittern, als sie an seinen Kuss dachte, an die verführerische, leise Stimme und sein tolles Lächeln. Am liebsten wäre sie aufgesprungen und wieder zu der Lichtung gerannt.
Da rüttelte sie jemand an der Schulter. „Tran? Bist du eingeschlafen? Ist alles in Ordnung?“ Es war Eric.
Sofort setzte sie sich auf. Tatsächlich hatte sie die Augen geschlossen und es hatte wohl so ausgesehen, als schliefe sie. „Nein, ich hab nicht geschlafen, bloß nachgedacht, tut mir leid“, beantwortete sie die Frage. Sie sah auf den Gesichtern ihrer Freunde die Lachtränen glitzern und grinste. „Welchen Witz habe ich verpasst?“, fragte sie mit betont munterer Stimme. Da sahen sie neun Gesichter fassungslos an. Sie blinzelte. „Was ist denn? Was habe ich denn noch verpasst?“
Eric antwortete ihr, seine Stimme klang belegt: „Vici hat uns gerade erzählt, was sie hergeführt hat. Ihre Schwester ist hier verschwunden.“
Trans Augen wurden groß, sie sah zu Vici und begriff, dass es keine Lachtränen auf den Gesichtern ihrer Freunde waren, sondern Tränen des Mitleids und der Trauer. „Es tut mir leid, wirklich, ich hatte ja keine Ahnung.“ Kaum merklich nickte Vici und gab ihr damit zu verstehen, dass es nicht so schlimm war. Sie seufzte erleichtert auf.
Dann berührte Eric sie zart an der Schulter, sie sah auf und er fragte: „Sollen wir mal ein Stück gehen, damit deine Durchblutung wieder angeregt wird?“
Sie nickte und folgte ihm mit einem an ihre Freunde gerichteten „Wir sind gleich wieder da“.
Sie gingen, bis das Feuer nur noch in der Ferne zu erkennen war.
„Was hast du auf dem Herzen, Eric, dass du mich hierher verschleppst?“, fragte sie, als er langsamer wurde, und blieb stehen.
Er drehte sich um und grinste. „Du kennst mich viel zu gut.“ Sie schmunzelte ebenfalls. „Ich wollte wissen, was mit dir los ist. Du kommst mir so verändert vor. Und schieb es nicht auf die lange Zeit, die wir uns nicht gesehen haben, daran liegt es nicht.“