Und so packen sie alle ihre Sachen, geben ihm ihr Geld und ziehen los in Richtung eines gelobten Landes, obwohl ihnen dämmern müsste, dass das alles nur Schafsmist ist. Irimiás ist das Achtzigerjahre-Pendant dieses Spam-Mails mit den sensationellen Investment-Gelegenheiten. Wer Klugheit besitzt und zur Schau stellt, den schätzt die blinde Masse. Und wer klüger ist als die anderen und außerdem noch ein rechter Ganove, der weiß das bestens auszunutzen. Recht geschieht ihnen: Die Futakis, die Kráners, die Schmidts, sie kriegen den Schurken, den sie verdient haben.
Irimiás ist ein Prophet wie sein Namensgeber, der biblische Jeremia – nur eben ein falscher. Statt in die Zunkunft zu blicken, schaut er direkt in seine armselig vor sich hin vegetierenden Schäfchen hinein und durch sie hindurch. In den Berichten, die Irimiás über die Leichtgläubigen verfasst, macht er schließlich seiner Verachtung Luft: Die Beamten haben ziemliche Mühe, seine derben und unflätigen Kommentare in ein sachlich-neutrales Ungarisch zu übersetzen. ■
BEINAME: Messias
BERUF: freiberuflicher Spitzel
SIDEKICK: Petrina
REDEGEWANDTHEIT:
KAIN
AUTOR: Mose (angeblich)
TITEL: Genesis (1. Buch Mose)
(aus dem Althebräischen, Altaramäischen und Altgriechischen von Martin Luther)
ORIGINALFASSUNG: ca. 400 v. Chr.
»Da sprach der Herr zu Kain: Warum ergrimmst du? Und warum senkst du deinen Blick? Ist’s nicht also? Wenn du fromm bist, so kannst du frei den Blick erheben. Bist du aber nicht fromm, so lauert die Sünde vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie. Da sprach Kain zu seinem Bruder Abel: Lass uns aufs Feld gehen! Und es begab sich, als sie auf dem Felde waren, erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot. Da sprach der Herr zu Kain: Wo ist dein Bruder Abel? Er sprach: Ich weiß nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein? Er aber sprach: Was hast du getan? Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde.
»Lass uns aufs Feld gehen!« Das klingt schon so. Aber wie hätte Abel auch ahnen sollen, dass er besser geantwortet hätte: »Leider keine Zeit!«, als einfach mitzukommen. Allzu viel soziale Erfahrung hatten sie damals noch nicht, als Menschen Numero 3 und 4.
Irgendwann musste es ja passieren, warum also nicht gleich, suggeriert uns das Alte Testament. Der dritte Mensch wurde nach Bibel und Koran also der erste Mörder und der erste Schurke, wenn man Satans schlüpfrige Apfelspiele als nicht irdisch (ja, als wahrlich unterirdisch!) außer Acht lässt.
Und dann auch noch aus einem so kleinlichen Grund! Der Herr, heißt es, zog Abels Opfer aus jungen Tieren und ihrem Fett Kains vegetarisch geprägter Darreichung vor, Kain wurde neidisch und sagte: »Lass uns aufs Feld gehen!« Im 1. Buch Mose (auch als Genesis bekannt) wird das sehr pragmatisch geschildert, denn als Heilige Schrift hat man sich nicht in Literatur zu ergehen, da geht es um Fakten. Das lässt einigen Interpretationsspielraum. Was erhoffte sich Kain, indem er Gottes Liebkind tötete? Wollte er mehr Aufmerksamkeit? War es Rache am Missachtenden? Hatte er sich das wirklich gut überlegt? Kain mag der erste Schurke des Abendlandes sein, unter die brillantesten fällt er nicht.
Die Strafe des Herrn ist auch knapp formuliert: Vertreibung aus dem Ehschon-Exil jenseits des Paradieses ins Lande Nod, und: »Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden.« Wenigstens kann Kain sich Schutz vorm Totgeschlagenwerden ausverhandeln und bekommt eine Frau – einigen Quellen zufolge seine Schwester – zur Seite gestellt; »die ward schwanger und gebar den Henoch«. Und so weiter. So pflanzte der Mörder sich fort, und unzählige Nachkommen machten ihrem Ahn alle Ehre.
Auch in der Literatur: Ganze 17 Verse im Alten Testament, die sich dem Urkriminellen widmeten, inspirierten viele weitere Kains. Bei Baudelaire (Die Blumen des Bösen, 1857) ist er ein potenzieller Revolutionär, der Gott entthronen soll. José Saramago (Kain, 2011) schickt ihn zur Strafe für seinen Brudermord nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich auf eine Irrfahrt. Bei Manuel Vicent (Mein Name ist Kain, 1991) ist er Jazzsaxofonist und behauptet, gar nicht der Mörder gewesen zu sein. Und in Steinbecks Jenseits von Eden aus dem Jahr 1955 ist überhaupt alles anders: Die kalifornischen Brüder Charles und Adam überleben ihren Konflikt (vorerst) beide. ■
HERKUNFT: Jenseits von Eden
SOHN VON: Adam und Eva
BRUDER VON: Bitte, wem?
VATER VON: Henoch
BERUF: Ackermann
ANZAHL DER VORFAHREN:
LISBETH FISCHER
AUTOR: Honoré de Balzac
TITEL: Die menschliche Komödie 25. Tante Lisbeth
(aus dem Französischen von Paul Zech)
ORIGINALFASSUNG: 1846
»Im Zeitraum dieser drei Jahre hatte Lisbeth auch deutlich genug schon die Fortschritte ihrer Unterhöhlungstaktik wahrnehmen können. Ihr ganzes Sinnen und Trachten hatte sich in diese eine Richtung hin bewegt. Lisbeth dachte, Madame Marneffe handelte. Madame Marneffe war die Axt, die Lisbeth in der Hand hielt. Und diese Hand zertrümmerte nun mit wuchtigen Schlägen jene Familie, die ihr von Stunde zu Stunde verhaßter wurde. Liebe und Haß sind Gefühle, die aus sich selber die Nahrung zum Fortbestehen ziehen. Der Haß jedoch hat eine längere Lebensdauer.
Irgendwer in der Familie muss doch die Rolle der netten, bäurischen, nicht besonders attraktiven und dennoch wählerischen, nicht wirklich ernst zu nehmenden altjungferlichen Tante annehmen? Ja! Es sei denn, du bist es selbst. Dann gibt es irgendwann den Moment, in dem du merkst, dass du diese Figur bist, zum Beispiel wenn deine liebreizende Nichte dir den Mann wegheiratet, den du dir monatelang unter dem Deckmantel der Mütterlichkeit zurechtgepeppelt hast. Dann ist Schluss mit lustig, lieb und Lisbeth. Dann läuft dein affiges Gesicht grün an, du wirst zur Cousine Bette (bête = das Biest) und vergiftest alle – oder subtiler: hilfst ihnen, sich selbst zu vergiften.
So viel Bosheit schwelt in Honoré de Balzacs in Windeseile hingeschriebenem »Feuilletonroman«, dass es ein Vergnügen ist. Man spürt richtig den Genuss, mit dem Balzac seine Figur verachtet: »Nun, ohne eine gewisse Grazie hat eine Frau in Paris keine Existenzberechtigung. Ihr schwarzes Haar, ihre schönen harten Augen, ihre markanten Gesichtszüge und die kalabrische Farbe ihres Teints machten aus Tante Lisbeth eine Giotto-Figur, was sich eine echte Pariserin sicher zunutze