Das Buch der Schurken. Martin Thomas Pesl. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Martin Thomas Pesl
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783903005938
Скачать книгу
In dem Riesenverkehr auf den Straßen von Paris sah sich kein Mensch nach Tante Lisbeth um.« Und das rächt sich.

      Es ist dieses 19.-Jahrhundert-Paris, in dem es Frauen nur ums Geld geht und Männern darum, mit allen zu schlafen, ausgenommen natürlich ihren Ehefrauen. Hechelnd überschütten sie ihre Mätressen mit Geschenken und Geld, das diese wiederum in ihre eigenen Liebhaber investieren. Hinter allem steht bald Fäden ziehend die gekränkte Tante – gezeichnet nach Balzacs eigener Mutter – und orchestriert höhnisch die Auswüchse der Lüsternheit, an der sie selbst nicht teilhaben darf. Ihre Nachbarin Valérie Marneffe wird von ihr ausgeschickt, um ihren Vetter Hulot (und vier andere Männer) um Verstand und Vermögen zu bringen.

      Emotionen kommen dabei kaum auf: Bei den Männern sind die Genitalien die einzig aktiven Organe, bei den Frauen die Rechenzentren im Hirn. Liebe ist Kalkül, Leid die Belohnung. Was Lisbeth letztendlich zugrunde gehen lässt, ist die Erkenntnis darüber, dass Hulots Frau Adeline – selbst eine lächerliche Figur aufgrund der beharrlichen Treue zu ihrem Mann – es schafft, die Familie zu vereinen (vorausgesetzt, der Lustmolch darf seine neueste minderjährige Gespielin mit ins Haus nehmen). Happiness killed the beast. ■

      RUFNAMEN: Tante Lisbeth, Cousine Bette

      BERUF: Arbeiterin, Gesellschafterin

      HOBBY: Heiraten (alternativ: Intrigieren)

      SCHÖNHEIT: KOMPLIZIN: Valérie Marneffe ERZFEINDE: die ganze Familie Hulot VORBILDER: u. a. Balzacs Mutter DARSTELLERINNEN: Jessica Lange, Jeanne Balabar

      MOBY DICK

      AUTOR: Herman Melville

      TITEL: Moby Dick oder Der Wal

      (aus dem Amerikanischen von Matthias Jendis)

      ORIGINALFASSUNG: 1851

Image

      »Aye, aye! Es war dieser verfluchte weiße Wal, der mir den Mast abgeschlagen hat, der aus mir bis ans Ende meiner Tage einen erbärmlichen, humpelnden Krüppel gemacht hat!« Darauf schüttelte er die Fäuste gen Himmel und schrie seine maßlosen Verwünschungen hinaus: »Aye, aye, und ich werd ihn ums Kap der Guten Hoffnung hetzen und auch ums Horn herum und um Norwegens Mahlstrom und durch die Flammen der Verdammnis, eh ich die Jagd verloren gebe. Und, Männer, das ist es, wofür ihr angeheuert habt! Diesen weißen Wal zu jagen, auf beiden Ozeanen, in allen Winkeln der Welt, bis schwarzes Blut er bläst und tot im Wasser treibt. (…)«

      Man muss sich auch mal die andere Seite ansehen. Klar, diese gekränkten Männer und ihre Besessenheit von hungrigen Meerestieren haben etwas Lächerliches: dieser Captain Hook mit seinem Krokodil, dieser alte Mann im Meer auf der Jagd nach dem Riesenmarlin und durchaus auch dieser immer fanatischer werdende Kapitän Ahab. Sie können nicht gewinnen, aber sie müssen kämpfen, um ihre fehlenden Gliedmaßen zu rächen (oder auch einfach nur ihren Stolz zu befriedigen).

      Aber trotzdem. Jetzt mal im Ernst: Moby Dick! Du Wal, du Weißer Wal du! Stellvertretend für die anderen Wassergenossen, die im Menschen einen irrationalen Tunnelblick auslösen, lass dir gesagt sein: Es ist ja verständlich, dass du nicht gejagt werden willst, und vor 150 Jahren hattest du auch noch keinen WWF, um dich zu schützen. Aber bitte, reiß dich zusammen, anstatt uns Menschen das Bein ab. Die ganze Umgebung leidet doch unter den ahabschen Gewaltobsessionen. Ismael, Starbuck, Queequeg – die müssen sich mit dem Mann ein Schiff teilen! Und das sind auch nur Säugetiere, so wie du.

      Bliebest du doch wenigstens ein »Phantom des Lebens«, wie du an einer Stelle bezeichnet wirst, eine omnipräsente, doch ungreifbare, numinose Nemesis, ein dämonischer Teufel, der in Wahrheit nur in den Köpfen derer existiert, die dich jagen! Das wäre schon schurkisch genug.

      Aber nein, du lässt dich auch noch aufspüren von der irre gewordenen Mannschaft: Absichtlich, könnte man dir unterstellen, lockst du sie in dein Revier, in die Höhle des Löwen sozusagen, nur bist du größer, lauter, dicker (tut mir leid, aber du hast »dick« schon im Namen!) und gefährlicher als ein Löwe. Und da sind sie dann und nähern sich dir, nicht wissend, was sie tun, stoßen sich an dir und kentern. Du hast kaum eine Flosse gerührt, hast dann nur ein bisschen das Schiff gerammt und dabei halt alle vernichtet. Hattest wohl nach dem Ahab-etitanreger noch Lust auf den Rest der Mahlzeit?

      Wer den Wal hat, hat die Qual. Und wer ihn nicht hat, quält sich selbst. Es ist ein Wunder, dass sich nach dir Weißem Wal und deinem ideellen Nachkommen, dem »Weißen Hai«, noch irgendjemand ins Wasser traut. ■

      GATTUNG: Pottwal

      HERKUNFT: Kap der guten Hoffnung

      FARBE: weiß

      FIGUR: dick

      LIEBLINGSSPEISE: Seemannshaxe

      WAFFE: Paranoia

      ERZFEIND: Kapitän Ahab

      INSPIRATION: Mocha Dick

      SCHIR KHAN

      AUTOR: Rudyard Kipling

      TITEL: Das Dschungelbuch

      (aus dem Englischen von Gisbert Haefs)

      ORIGINALFASSUNG: 1894

Image

      »(…) Was für dummes Zeug redest Du da von Deinem Belieben? Bei dem Ochsen, den ich soeben gewürgt habe, soll ich hier mit der Nase in der Höhle eines jämmerlichen Hundes stehen, um das zu verlangen, was mir gebührt? Es ist Khan, Schir Khan, der mit Dir spricht!«

      Des Tigers Geheul erfüllte die Höhle mit rollendem Donner. Mutter Wolf schüttelte ihre Jungen von sich ab; sie sprang vorwärts, und ihre Augen, wie zwei grüne Mondsicheln, starrten auf die beiden glühenden Kohlen im gewaltigen Kopf von Schir Khan.

      Vergesst den Disney-Film. Na gut, vergesst ihn nicht. Ihr könnt ihn nicht vergessen. Und die Geschichte à la Rudyard Kipling ist ja auch sehr Disney: Tiger trennt kleinen Jungen von seinen Eltern, macht ihn dadurch gewissermaßen zum Waisen und kann nicht verwinden, dass er ihn nicht auch erwischt hat. Kleiner Junge wächst bei Wölfen auf, tanzt fröhlich und wird von allen (Python eingeschlossen) gemocht, rächt sich schließlich in großem Showdown an Tiger.

      Man könnte das natürlich auch so sehen: Vielleicht hatte Schir Khan einfach Hunger? Vielleicht ist sein Antagonismus ein Symbol für die Rache der Natur am Eingriff des Menschen? Nur so ein Gedanke, der natürlich nicht sehr Disney ist und, weiter zurückgedacht, auch nicht zu einem Autor passt, der Geschichten für den allerliebsten Liebling schreibt. Ein klassischer Bösewicht also, furchterregend und mit Gebrüll, aber auch typisch mit einem Handicap: einem gelähmten Bein.

      Das Wort »schir« bedeutet »Tiger« auf Persisch, »khan« wiederum ist der Herrscher in diversen Paschtu-Sprachen. Manchmal jagt und tötet Schir Khan Menschen einfach so zum Zeitvertreib, wohl aber auch um anzugeben, denn bis auf den Schakal Tabaqui nimmt ihn seltsamerweise niemand im Dschungel so richtig ernst, obwohl er, von der eigenen Mutter als Lungri (»der Lahme«) verspottet, doch selbst der Meinung ist, der König der Tiere zu sein. Wieder ein Klassiker: das Kindheitstrauma, die narzisstische Kränkung.

      So wird Maugli (auch Mowgli oder Mogli) also zu seiner Nemesis, und umgekehrt. Über die Jahre bereitet Schir Khan seinen großen Schlag vor, verspricht den jungen Wölfen Belohnungen für Mauglis Auslieferung und die Schwächung ihres Anführers Akela. Bevor es dazu jedoch kommen kann, enthüllt der kleine Mensch zwei Nachteile der großen Katze: Angst vor Feuer und – eine nachvollziehbare Schwäche – absolute Chancenlosigkeit