Können Sie mir den Weg in die Innenstadt zeigen, fragte Hedwig.
Der Polizist sah sie erstaunt an. Sie sind ja hier mitten in der Innenstadt, sagte er. Das hier ist die Nürnberger Innenstadt.
Er beschrieb mit dem Arm einen Kreis und wies auf die umliegenden Ruinenfelder. Sie befinden sich, sagte er, mitten im Zentrum von Nürnberg. Oder, setzte er hinzu, in dem, was das Zentrum von Nürnberg einmal gewesen ist.
Sie habe, sagt Hedwig, plötzlich furchtbar gefroren. Das war eine Kirche, sagte der Polizist und wies mit der Hand auf einen Trümmerhaufen, aus dessen Mitte ein Steinblock ragte, aus dem Steinblock ein großes, schwarzes Kreuz.
Nur schwarz berußte Trümmer, sagt Hedwig, darauf das Kreuz, sie habe gar nicht daran gedacht, daß dies einmal eine Kirche gewesen sei, aber der Anblick dieses einsam ragenden Kreuzes über den Trümmern habe sie mit einem furchtbaren Entsetzen erfüllt. Trotz allem, was sie selbst habe erleben müssen, was sie vorher schon gesehen und erlebt hatte, sei dies eine ihr bis dahin noch unbekannte Art des Entsetzens gewesen, von dem sie ergriffen worden sei.
Ist Ihnen schlecht? fragte der Polizist und blickte Hedwig erschrocken an.
Nein, sagte Hedwig, ihr sei nicht schlecht, nur sehr kalt.
Sie habe am ganzen Körper gezittert, aber nicht nur wegen der äußeren Kälte, eher wegen jener, die von innen gekommen sei. Sie sei sehr schnell davongegangen, sie habe das Paket fest an sich gedrückt, sie sei fast gelaufen, die kalte Nässe sei durch ihre schon schäbigen Schuhe gedrungen, sie habe noch zwei- oder dreimal nach dem Weg fragen müssen, obwohl das auch nicht leicht gewesen sei, weil sie nur so wenige Leute getroffen habe. Schließlich sei sie auf dem Bahnhof angekommen, habe sich dort auf einen Stein gesetzt und geweint. Nein, daran, was in dem Paket gewesen sei, erinnere sie sich nicht. Wahrscheinlich Lebensmittel, sagt sie, obwohl die Schwägerin in Wien ja auch nicht viel gehabt hat, und wahrscheinlich einige Kleidungs- oder Wäschestücke für die Kinder. Sie seien ja damals über jedes Stück, das man ihnen geschenkt habe, glücklich gewesen.
Aber monatelang habe sie von der zerstörten Stadt Nürnberg geträumt, in diesen Träumen, aus denen sie immer wieder aufgeschreckt sei, in Schweiß gebadet, dabei zitternd vor Kälte, sagt Hedwig, in diesen Träumen habe sich die Zerstörung jedoch später nicht mehr ausschließlich auf Nürnberg bezogen, schließlich sei der Begriff Nürnberg darin überhaupt nicht mehr vorgekommen, sie habe nur endlose Trümmerwüsten gesehen, zerstörte Häuser und Schuttberge, sie habe geträumt, daß sie zwischen diesen Trümmern und Schuttbergen hindurchlaufen müsse, sie habe sich dabei sehr allein gefühlt, von allen verlassen, sie habe zwischen den Ruinen und in den Kellerlöchern nach ihren Kindern gesucht und sie nicht gefunden, habe auch nach ihrem Mann Richard gerufen, und immer wieder habe sie diesen Steinhaufen gesehen und das große, schwarze Kreuz darauf. Immer wieder dieses Kreuz zwischen den Trümmern, sagt Hedwig, diese Träume hätten sie lange verfolgt und ganz krank gemacht.
(Fünf Jahre vorher, am 2. Jänner 1945, an einem schneefreien, diesigen Wintertag, hatte der schwerste Angriff auf die Stadt Nürnberg stattgefunden, er dauerte dreiundfünfzig Minuten und forderte zweitausend Menschenleben, Hunderttausende wurden obdachlos. Etwa tausend Flugzeuge warfen rund eine Million Stab- und Phosphorbomben, etwa hundert Minen und sechstausend Brandbomben ab. In der bis dahin schon schwer getroffenen Stadt lebten, wie man anhand der Lebensmittelkarten errechnet hatte, die ausgegeben worden waren, nur noch 259.000 Menschen, von denen allerdings auch schon viele in die umliegenden Landgebiete gezogen waren. Die Tage und Nächte seit dem Weihnachtsfest waren ruhig verlaufen, man hoffte schon auf ein baldiges Ende des Krieges, wenn es auch ein Ende mit Schrecken sein würde. Wohl hatte es am Nachmittag des 2. Jänner dreimal Voralarm gegeben, aber als die Dämmerung hereinbrach, waren die Straßen trotzdem belebt, die Straßenbahnen wegen des Schichtwechsels in den Fabriken überfüllt, auch zu den Kinos und zum Opernhaus strömten die Menschen, die Abendvorstellungen waren wegen der drohenden Alarmgefahr vorverlegt worden. Gegen achtzehn Uhr wußte man bereits, daß große Bomberverbände im Anflug auf Hamburg und Aachen waren. Dann schwebten CHRISTBÄUME über der Stadt, in der Mitte einer in grüner Farbe, die Türme von Sankt Lorenz und der Kaiserburg, die Giebel der noch unversehrten Fachwerkhäuser waren in fahles Licht getaucht, im Südosten erglänzte der grelle Blitz einer Mine, gefolgt von einem dröhnenden Donnerschlag, dann kamen die Bomber.
Anfangs sollen sie nur aus Südost gekommen sein, dann aus Ost und West, schließlich aus allen Himmelsrichtungen. Die erste Bombe fiel siebenundvierzig Minuten nach achtzehn Uhr, dreiundfünfzig Minuten später war alles vorbei. Eine riesige Wolke aus Ruß und Rauch hing über der Altstadt, die den Flammen rettungslos ausgeliefert war. Es war unmöglich, das Feuer einzudämmen, denn es herrschte totaler Wassermangel. Über hunderttausend Menschen, die das Inferno lebend überstanden hatten und obdachlos geworden waren, stürmten am nächsten Tag die wenigen intakt gebliebenen Bahnhöfe der Umgebung und versuchten, im umliegenden Land ein Obdach zu finden.
Fünf Tage nach der Katastrophe fiel Schnee in dichten Flocken und legte eine weiße Decke über Nürnbergs zerstörte Altstadt und über die Toten, die unter den Trümmern lagen.)
Hedwig erreichte ihr Dorf in den Abendstunden, müde und deprimiert ging sie den Weg vom Bahnhof hinauf, die Straße war mit Eis bedeckt, auch der Weiher unterhalb des Schlößchens war mit einer dicken Eisschicht überzogen. Nur wenige Leute hatten wie sie den Zug verlassen und strebten jetzt ihren Häusern und Wohnungen zu. Sie merkte erst jetzt, wie schwer das Paket war, das die Schwägerin geschickt hatte, sie merkte erst jetzt, daß ihre Füße in den nassen Schuhen vor Kälte gefühllos geworden waren, daß sie Hunger hatte. Sie schleppte sich bis zu dem Haus, in dem Eltern und Kinder auf ihr Heimkommen warteten, öffnete die Haustür vorsichtig, um die Hausleute nicht auf ihr Kommen aufmerksam zu machen, und ging dann leise die Treppe hinauf. Sie hörte die Stimmen ihrer Kinder und empfand plötzlich etwas wie Dankbarkeit dafür, daß sie ein geheiztes Kämmerchen betreten durfte, so elend es auch war, daß sie nicht in einem Kellerloch zwischen Ruinen hausen mußte.
Es hat Leute gegeben, denen es noch schlechter gegangen ist als uns, sagt Hedwig, und das sind nicht einmal Flüchtlinge oder Vertriebene gewesen. Auch hier hat es so viele gegeben, die alles verloren haben wie wir, sagt sie. NUR DIE HEIMAT HABEN SIE NICHT VERLOREN.
Zwölf Millionen Heimatvertriebene stellten nicht nur ein deutsches, sie stellten ein internationales Problem dar, mit dem man sich zu beschäftigen hatte. Zwölf Millionen Heimatvertriebene waren eine Zahl, mit der man rechnen mußte und mit der man auch rechnete, eine Menge, die zu einer Macht werden konnte, auf deren Bedürfnisse einzugehen, die zu respektieren war. Zwölf Millionen, man hätte sie sicherlich auch gerne aus dem eigenen, mit Obdachlosen und Arbeitslosen überfüllten, armen, zerstörten Land wieder in ihre Heimatgebiete zurückgebracht, wenn dies möglich und menschlich vertretbar gewesen wäre. Hat man dies in Deutschland, fünf Jahre nach dem Ende des Kriegs, noch für möglich gehalten, und wenn dies so