JEDE GEIGE HAT EINEN ANDEREN KLANG. Das wußten die Schönbacher schon, als in Italien die berühmten Meister Amati, Stradivarius und Guanerius wirkten. Schon im 16. Jahrhundert wurden im Egerland Geigen gebaut, eine mehrjährige Wanderzeit war den Gesellen streng vorgeschrieben, sie vervollkommneten ihre Kunst bei den italienischen Meistern, der eine oder der andere von ihnen ist vielleicht in Italien geblieben, unter den Lautenmachern von Brescia und Bologna sollen Schönbacher Namen vorgekommen sein. Die älteste im Egerland hergestellte Bratsche, 1664 gebaut von Johann Adam Pöbel in Bruck, einem zur Pfarre Schönbach gehörigen Dorf, wird im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg aufbewahrt.
Durch den freundlichen Ort Bubenreuth bei Erlangen gehend, habe ich, Anna, die ersten Häuser gesehen, die dort gebaut worden sind. Ich bin im Wohnzimmer des Bürgermeisters gesessen, das zugleich als Arbeitszimmer gebaut worden ist, wie es daheim in Schönbach so üblich war, ich habe mir die Geschichte der Geigenbauer aus Schönbach erzählen lassen.
Dankbar gedenkt man dort der Leute, die damals geholfen haben. Immer wieder wird im Zusammenhang mit dem Bau der Siedlung der Name eines Landrats genannt, Höhnekopp habe er geheißen, er habe alles vorangetrieben und zustande gebracht. Auch der Name des Bürgermeisters von Altbubenreuth, Paulus, der ein großes Stück Grund zur Verfügung stellte und letzten Endes für die Ansiedlung war, ist unvergessen geblieben. Das Geld habe die St.-Josephs-Stiftung gegeben.
Der Bürgermeister von Bubenreuth ist Geigenbauermeister, seine Instrumente gehen nach England und Korea, nach Japan und in die Schweiz. Die Frau Bürgermeisterin ist perfekt im Lackieren. Und die Gitarren, die jener Meister baut, der mich durch das Museum führte, gehören zu den besten der Welt.
Noch vor Weihnachten neunundvierzig zogen die ersten Familien in die neu erbauten Wohnhäuser ein. Bald arbeiteten sie wieder, die Boden- und Deckenmacher lieferten die Böden und Decken, die Schachtelmacher leimten die Zwischenteile auf die Böden auf, die Korpusmacher fügten die Decken hinzu, die Griffbrett- und die Saitenhaltermacher, Hals- und Schneckenschnitzer, Wirbeldreher und Stegschnitzer lieferten die von ihnen hergestellten Teile, die Geigenbauer endlich fügten die Teile zusammen, jeder arbeitete in seinem eigenen Haus. Man baute auch das Cello, die Bratsche, den Streichbaß, die Laute, man baute auch Zupfinstrumente, vor allem die immer moderner werdenden Gitarren.
Ja, auch heute noch werden Geigen nach dieser alten Methode in Arbeitsteilung gebaut, man kann nach Bubenreuth fahren und den Handwerkern in ihren Werkstätten zusehen, das sind aber vor allem die Schülergeigen, die auf diese Weise entstehen.
Wer eine Meistergeige besitzen will, kauft sie bei einem Geigenbauermeister seines Vertrauens, direkt in Bubenreuth.
Sechzig Meister leben und arbeiten in Bubenreuth und in den nahe gelegenen Orten, auch die Bogenbauer gehören dazu.
Auch Yehudi Menuhin hat eine Meistergeige aus Bubenreuth gekauft.
Die Schönbacherstraße, die Sudetenstraße, der Werkstättenweg. Als ich, Anna, in Bubenreuth bei Erlangen war, marschierte abends ein langer Zug Männer und Frauen in egerländischer Tracht durch die Gassen hinaus aus dem Ort, um die Sonnenwende zu feiern. Ich blieb stehen auf einem kleinen, von Bäumen überschatteten Platz, eine riesige, uralte Eiche breitete ihre Äste, dort steht der Geigenbauer, wie einst in Schönbach, er steht auf einer steinernen Weltkugel, die auf steinernen Schnecken ruht, er hält die bronzene Geige nicht so hoch, wie sein Vorgänger in der alten Heimat, er blickt nicht so selbstsicher geradeaus ins Land hinein, er hat den Blick gesenkt und blickt versonnen auf das Instrument herab, das in seinen Händen liegt.
Hier ist meine Geige, scheint der Mann auf dem Denkmal in Schönbach zu sagen, ich habe sie für euch gebaut, euch zur Freude, spielt sie, tanzt zu ihrer Musik. Sein Nachfolger in Bubenreuth bei Erlangen scheint nicht an Tanz zu denken, ein inniger Ausdruck liegt über seinem Gesicht und in seiner Haltung. Hier ist meine Geige, scheint er zu sagen, ich gebe sie euch und vertraue darauf, daß ihr sie lieben werdet, wie ich sie liebe, die Arbeit an ihr hat mir Heimat gegeben in einem Land, in das ich als ein Fremder gekommen bin. Nicht alle Geigenbauer hat man aus Schönbach vertrieben, einige hat man nicht weggehen lassen, auch wenn sie lieber mit den anderen gegangen wären, man hat sie zur Weitergabe ihrer Kenntnisse gebraucht.
Das Schönbacher Geigenbauerdenkmal steht noch, sagte mir ein Mann in Bubenreuth.
Ob die Aufschrift darauf noch deutsch ist?
Das weiß ich nicht, sagte der Mann. Schönbach, das immer deutsch gewesen sei, heiße jetzt Luby. Das soll Zarge heißen, sagte er.
(Dej mi rot, dej mi blau, sollen die tschechischen Arbeiter in den ehemals deutschen Betrieben der Glasstadt Gablonz noch lange nach der Vertreibung der Deutschen gesagt, sie sollen die deutschen Worte für sich übernommen haben.)
6
Natürlich werde ich kommen, hatte ich gesagt und Judiths Beerdigung in Nürnberg gemeint. Als wir beide den Telefonhörer wieder aufgelegt hatten, Christian in Frankfurt und ich in Wien, dachte ich über diese spontane Zusage nach. Jahrzehntelang hatte ich nichts mehr von Judith gehört, ich hatte nicht einmal ihre Adresse gekannt, sie hatte mir keine Briefe geschrieben. War das, was uns verbunden hatte, wirklich Freundschaft gewesen? Ich stellte mir diese Frage, und wie mir sofort bewußt wurde, stelle ich sie mir um mehr als dreißig Jahre zu spät. Plötzlich wußte ich, daß ich, was mein Verhältnis zu Judith betraf, mit dem Wort Freundschaft leichtfertig umgegangen war.
War Judith meine, war ich Judiths Freundin gewesen? Hatten wir nicht, wie dies häufig der Fall ist, in derselben Gegend verbrachte Kinderjahre, Gymnasialjahre an derselben Anstalt, gemeinsame Erinnerung an Orte, Begebenheiten und Personen, hatten wir dies alles nicht nur irrtümlich mit jener viel tieferen Art der Beziehung gleichgesetzt, die zwischen Menschen besteht, die einander in Freundschaft verbunden sind? Was hatte ich für Judith, was hatte Judith für mich getan, was wären wir, wäre dies notwendig geworden, bereit gewesen, füreinander zu tun? Waren wir nicht in vielerlei Hinsicht geteilter, ja gegensätzlicher Meinung gewesen? Was überhaupt hatten wir wirklich voneinander gewußt, wieweit hatten wir einander wirklich gekannt?
Nachdem Judith Wien verlassen hatte, war keine Nachricht mehr von ihr gekommen, sie hatte mit Absicht jede Verbindung, nicht nur zu mir, auch zu allen anderen, die sie gekannt hatte, unterbrochen. Ihr Vater war bald gestorben, wenige Monate nach ihrer Abreise starb auch die Mutter, andere Verwandte kannten wir nicht. Jene Cousine ihres Vaters, die der Familie nach dem Krieg in Wien Unterkunft gewährt hatte, war nicht mehr am Leben. Es gab niemanden, der uns Auskunft geben konnte.
Ich lag schlaflos in dieser Nacht und dachte an Judith, wie sie damals gewesen war. Ich erinnerte mich daran, was sie sagte, als wir einander in Wien wieder trafen. Man muß die Vergangenheit begraben, hatte sie gesagt, man muß unter alles, was gewesen ist, einen Strich ziehen und ein ganz neues Leben beginnen. Man muß einfach vergessen, das ist die einzige Möglichkeit.
Das muß man aber auch können, hatte ich gesagt.
Dazu muß man sich zwingen, hatte sie geantwortet, eine andere Möglichkeit gibt es nicht.
Schon Judiths Weg nach Wien unterschied sich von vielen anderen Wegen, von denen wir wußten. Ihre Mutter stammte aus der Stadt Bodenbach an der Elbe, sie war mit der Tochter vor Weihnachten vierundvierzig dorthin zu ihrer Schwester gezogen, deren Mann gefallen war, der Vater, kurz vor dem Ende des Krieges frontuntauglich geworden, kehrte ebenfalls dorthin zurück, es gelang der Familie, beisammenzubleiben, was in jenen Monaten keine Selbstverständlichkeit war. Im Juli fünfundvierzig, berichtete Judith, habe man sie eines Nachts gegen zwei Uhr geweckt und zum Bahnhof getrieben, dort habe man sie in offene Kohlenwaggons gepreßt und über die Grenze nach Sachsen gebracht.
Wahrscheinlich, sagte Judith, hätten wir nach Mecklenburg in ein Lager gebracht werden sollen, aber der Vater wollte nicht in ein Lager, er wollte auch nicht nach Mecklenburg, er habe mit dem Wort LAGER Vorstellungen von Zwang und Gefangenschaft verbunden, habe während der Fahrt ununterbrochen auf die Frau und auf deren Schwester eingeredet, sie schließlich davon überzeugt, daß sie den Zug heimlich verlassen, daß sie abspringen, sich auf eigene Faust durchschlagen, einen Ort finden müßten,