(Hier ist daran zu erinnern, daß Annis Großeltern, Josef und Anna, mit ihrer Tochter Hedwig und deren beiden Kindern Heidi und Günter nach ihrer Vertreibung von Haus und Hof und einer Zwischenstation im nördlichen Niederösterreich in ein sehr kleines Dorf bei Erlangen gebracht wurden, wo sie in einem Häuschen zwei Dachkammern bewohnten. Heidi und Günter erklären, daß der Tisch der Familie in jenen Jahren mehr als mager gedeckt gewesen sei. Sie waren zu diesem Zeitpunkt, von dem hier die Rede ist, sieben und zehn Jahre alt und können sich nicht daran erinnern, damals GUT UND REICHLICH gegessen zu haben.
Präsente, die man den Großen machte, spiegeln die Lage der Zeit deutlicher als der zitierte Zeitungsbericht. Zum vierundsiebzigsten Geburtstag des Bundeskanzlers Adenauer stellten sich die Länder mit Lebensmittelgeschenken ein. Bayern soll sechs Hühnereier, Schleswig-Holstein ein halbes Pfund Butter gespendet haben.)
Der Winter also war kalt, und die Familie fror, obwohl Großvater Josef Holz aus dem Wald heranbrachte und der kleine eiserne Ofen, der in einer der beiden Kammern stand, geheizt werden konnte. Die Wände blieben kalt, und durch die Fugen der klapprigen Fenster pfiff ein eisiger Wind.
Großmutter Anna war schon mehrmals schwer krank gewesen, sie war über siebzig Jahre alt und geschwächt. Hedwig hatte die Sorge um die tägliche Nahrung für die fünfköpfige Familie und zu ihrem Kummer um den in Rußland verschollenen Mann Richard auch noch jene um die kranke Mutter zu tragen.
Die Schwägerin in Wien versuchte zu helfen, sie stellte ein Weihnachtspaket zusammen und gab es einer Frau mit, die zu Verwandten nach Nürnberg fuhr. Irgendwann um die Weihnachtszeit kam dann der von der Zensurstelle geöffnete und wieder verklebte Brief, in dem Hedwig mitgeteilt wurde, daß das Paket unter einer genannten Adresse in Nürnberg zu holen sei.
Hedwig war bis zu diesem Zeitpunkt noch nie in der nahen Stadt Nürnberg gewesen, die Gelegenheit hatte sich nicht ergeben, jetzt mußte sie diese Fahrt unternehmen, obwohl die Mutter wieder erkrankt war und sie dringend gebraucht hätte. Das Paket und sein Inhalt waren wichtig, und sie entschloß sich zur Reise.
Sie zog den Mantel an, den eine befreundete Frau ihr aus einem alten Männerrock und einer Jacke genäht hatte. Nein, einen richtigen Mantel habe sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht gehabt.
(Wenig später wurde in Nürnberg ein Winterschlußverkauf eröffnet, in den zwischen den Ruinen errichteten Behelfsläden gab es Damenwintermäntel aus umgearbeiteter US-Ware, BESTE, STRAPAZIERFÄHIGE QUALITÄT, mit Webpelzfutter, sie kosteten fünfundzwanzig bis dreißig Mark.
Das hätte mir auch nichts genützt, auch wenn ich es gewußt hätte, sagt Hedwig. Soviel Geld habe ich für mich nicht ausgeben können, soviel Geld habe ich gar nicht gehabt.
Arbeitsjacken aus Wolle kosteten drei Mark fünfundsechzig, Gummiüberschuhe drei Mark fünfzehn bis vier Mark fünfzig. Die Ware war liegengeblieben, die Leute hatten sie nicht gekauft. Überall machte sich Geldnot bemerkbar.
Mit der Währungsreform, heißt es allgemein, habe der Konsum begonnen. Die Leute hätten die Geschäfte gestürmt und gekauft, was kaufbar gewesen sei.
Das ist ein Märchen, sagt Hedwig, davon sind nur sehr wenige betroffen gewesen. Die meisten Leute sind vor den Geschäften gestanden und haben in die Auslagen geschaut und die Sachen bestaunt, die es schon wieder gegeben hat. Wirklich kaufen konnten die wenigsten. Alles spricht von dem Aufschwung, sagt ein Geschäftsmann, der Ende der fünfziger Jahre nach Amerika ausgewandert ist, niemand spricht von der FLAUTE nach der Währungsreform.
Das zu Unrecht erworbene Geld der Schwarzhändler und Schieber war abgeschöpft worden, das durch Schwarzhandel und Betrug erworbene Geld, Haufen von Papiergeld waren zu wenigen Scheinen geschmolzen oder zu einem Häuflein Münzen, die Währungsreform hatte die neuen Reichen wieder arm gemacht, aber die Armen waren dadurch nicht reicher geworden.)
Hedwig bestieg den ungeheizten Zug, der sie nach Forchheim bringen würde, sie hockte frierend auf der Holzbank und sah die Landschaft vorüberziehen, die sie kannte. Vier Jahre lebte sie mit den Ihren nun schon in dieser Gegend, in Forchheim war sie wiederholt gewesen, auch Erlangen kannte sie schon, Nürnberg noch nicht. Ein Jahr hatte sie in Österreich verbracht, hatte dann weiterziehen müssen, zum zweitenmal vertrieben, zum zweitenmal gezwungen, sich an eine neue Umgebung zu gewöhnen, schon Gewohntes aufgeben zu müssen, eine junge Frau, die Kinder geboren und wieder begraben hatte. Ein kleines Grab war auf einem niederösterreichischen Dorffriedhof zurückgeblieben. Ihr Mann Richard war aus Rußland nicht wiedergekommen, sie hatte sich dazu entschließen müssen, die Todeserklärung zu beantragen, Kriegerwitwen stand eine zusätzliche Rente zu, sie hatte das Geld gebraucht, um die beiden ihr noch verbliebenen Kinder und die alten Eltern ernähren zu können, obwohl sie insgeheim immer noch hoffte, Richard würde eines Tages wiederkommen, über das Rote Kreuz oder über die in Wien lebende Schwester ihren Aufenthaltsort erfahren. Immer wieder hatte sie sich in Tagträumen ausgedacht, wie er eines Tages vor der Tür stehen, wie sie ihm öffnen würde, wie die Kinder auf ihn zustürzen würden, wie er sie, Hedwig, in die Arme schließen würde. Immer wieder hatte sie in den Nächten von ihm geträumt, eine junge Frau, die ohne ihren Mann zu leben gezwungen war, die sich sehnte und wach lag, wenn die Alten und die Kinder schon in ihren Betten schliefen, eine immer noch schöne junge Frau, die trotz ihrer Armut nicht hätte allein bleiben müssen, es jedoch blieb, weil sie nicht aufhören konnte, auf ein Wunder zu hoffen.
In Forchheim hielt der Zug, Hedwig stand längere Zeit frierend auf dem Bahnsteig, stieg dann in einen anderen Zug um, saß wieder auf einer Holzbank im ungeheizten Abteil, kam endlich in Nürnberg an.
Hatte sie sich vor der Fahrt in die Stadt, von der sie schon so viel gehört hatte, die sie von Bildern und Büchern her kannte, gefürchtet oder hatte sie sich darauf gefreut? Sollte sie diese Fahrt mit dem Gefühl angetreten haben, vom Dorf in eine große Stadt zu fahren, in eine stark zerstörte, aber immerhin von Leben erfüllte Stadt, sollte sie sich, trotz der quälenden Sorgen, auf eine Abwechslung gefreut haben, dann jedenfalls wurde sie grausam enttäuscht.
Als sie den Zug verlassen hatte, sah sie Ruinen, wohin sie auch blickte, sauber zur Seite geräumten, aber in hohen Haufen liegenden Schutt. Aus den Trümmern ragten bizarre Reste von Türmen, Mauern, Gewölben. Nackte Fensterbogen sah sie, mit schwarz verkohlten Stuckrosetten, einzelne, noch erhalten gebliebene Schornsteine ragten wie Nadeln empor, von Fensterlöchern durchbrochenes Mauerwerk hob sich gegen den Winterhimmel ab. Hedwig hatte viel über die zerstörten Städte Deutschlands gehört und gelesen, überall war darüber geschrieben und auch gesprochen worden, so aber hatte sie sich die Wirklichkeit doch nicht vorgestellt. Auch in B. waren zu Kriegsende Bomben gefallen, auch dort hatten Häuser gebrannt, auch die Stadt Wien hatte furchtbare Zerstörungen aufzuweisen gehabt. Aber das, sagt sie, muß man erlebt haben, man muß es gesehen haben, um zu wissen, wie es wirklich gewesen ist.
Sie sei, sagt Hedwig, immer weitergegangen, wie von selbst hätten sich ihre Füße bewegt. Auf einem freien Platz, mitten unter den Trümmern, sei auf einem Sockel eine dunkle Figur in wallendem Umhang gesessen, in der einen Hand einen Schreibblock, in der anderen eine Feder, als sie nahe genug herangekommen sei, habe sie das Denkmal von Hans Sachs erkannt.