Joe 9/11. Thomas Antonic. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Antonic
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783903005648
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darauf erkennen, wenn du es nicht vergrößerst. Schlussfolgerung Numero zwei also: Derjenige, der das Foto geschossen hat, kann nicht gewusst haben, was er da fotografiert hat. (Ich nehme bloß an, dass es sich beim Fotografen um einen Mann handelt.) Jeeesus, aber dann gibt es die Fotos, die nach dem Mord an der Café-Inhaberin gefunden wurden. Das ergibt doch alles keinen Sinn! Überhaupt keinen. Kannst du die Fotos beschaffen? Kannst du herausfinden, ob es sich um dieselbe Kamera handelt? Denselben Film? Das wäre eine äußerst wichtige Information. Sollte das der Fall sein, werde ich das Foto NICHT ausstellen. Wahrhaftig nicht! Dafür könnte ich in den Knast wandern. Und sollte der Fotograf mich ausfindig machen, wird er mich mit einer verdammten Bratpfanne erschlagen!!!!! Jeeesus, Martty, das ist eine üble Sache. Vielleicht solltest du nach Hause fliegen, und vielleicht sollte ich dieses verdammte Foto einfach verbrennen und die Sache vergessen. Ja?

      Das ist nicht gut, Martty. Ich mag das nicht. In der Tat sollte ich mit diesem verdammten Foto zur Polizei gehen. Jeeesus, Martty, sag mir, was ich tun soll! Soll ich zur Polizei gehen? Das würde bedeuten, dass ich das Foto verlieren, die nächste, vielleicht die letzte Chance verpassen würde. Mein Leben verpassen und verlieren. Scheiße. Was ist, wenn auf diesem Foto ein Suizid zu sehen ist? Es ist nicht meine Schuld! Vielleicht ist alles bloß ein Zufall. Unzählige Fotografen fahren nach Sagres. Ich war auch dort, verdammt!

      10

       Einen Tag später

      – – – SMS von Martty an Peter:

       Hey, Kumpel! Ich habe mich abermals mit den Polizisten hier unterhalten. Sie haben mir die Fotos gezeigt. Überraschung: Sie stammen NICHT von derselben Kamera! Du kannst das Foto ausstellen. No problemo … Cheers, Martty.

      – – – – – – – – –

      Martty drückt auf »SENDEN« und seufzt. Er hasst es, seinen besten Freund anzulügen. Bevor er am Vortag nach ein paar Stunden Flanierens durch Lagos in den Bus zurück nach Sagres gestiegen war, ist er noch einmal in das Internet-Café gegangen und hat Peters Antwort zu lesen bekommen. Er braucht die Fotos nicht zu sehen, um herauszufinden, dass sie von derselben Kamera stammen. Die Sache ist völlig klar. Das ist kein Zufall. Und nebenbei: Wie viele Menschen benutzen einen Schwarz-Weiß-Film in einer Polaroid? Aber Martty ist davon überzeugt, dass der Typ, der die Fotos von den Klippen und von der Frau im Café gemacht hat, niemals herausfinden wird, dass Peter im Besitz seines Klippen-Fotos ist. Dass er womöglich nicht einmal wusste, was tatsächlich darauf zu sehen ist, tut nichts zur Sache. Und Martty hat diese SMS geschrieben, weil er denkt, dass dies das Beste für Peter ist. Peter ist ein Feigling, und er sollte sich entspannen.

      Das nächste, das es nun also zu tun gilt: ein Boot mieten und zu den Klippen hinausfahren. Darauf vorbereitet sein, eine Leiche zu finden. Also spaziert er in seinen Shorts von seinem Hotel aus durch das stille, verschlafene Dorf zum östlich gelegenen Hafen, etwas Geld in einer Hosentasche und die kleine Digitalkamera in der anderen. Er bewundert Peters Profession, aber er selbst hasst diesen alten, analogen Dreck.

      Kurz vor dem Hafen entdeckt er ein Geschäft und traut seinen Augen nicht: ein kleiner Laden, der gebrauchte Kameras verkauft. In diesem kleinen Rattenloch! Und im Schaufenster drei, vier … FÜNF Polaroids!!

      Martty: »Junge, Junge …«

      Das ändert die Situation beträchtlich, denkt er. Die Chance, dass der Killer und der Klippen-Fotograf ein und dieselbe Person sind, ist schlagartig von hundert auf fünfzig Prozent oder noch weniger gesunken. Das würde immerhin bedeuten, dass er Peter gar nicht angelogen hätte — was allerdings das einzig Positive an seinen Ermittlungen darstellt.

      Die Tür ist sperrangelweit offen und Martty betritt den Laden. Ein kleiner, älterer Herr sitzt hinter einem kleinen Tisch und sieht sehr lustig aus. Er trägt Brillen und einen großen Bauch unter seinen weiten Hosen, die ihm fast bis zur Brust reichen.

      Mann: »Olá!«

      Martty: »Hallo. Ahhmm … Sprechen Sie Englisch? Hawla ingleese?«

      Mann: »Lamento muito, senhor!«

      Martty: »Oh, scheiße …« (kurze Pause) »Also, ich bin auf der Suche nach einer Kamera. Camera, si?«

      Mann: »Sim, tenho muitas câmaras!«

      Martty: »Ich suche eine Polaroid 909 … Polaroid nuewe zero nuewe …«

      Mann: »Nove-zero-nove? Pah!«

      Der Mann sieht Martty an, als ob er verrückt wäre.

      Mann: »Lamento muito senhor, nao tenho uma nove-zero-nove. É raro.«

      Martty: »Okay, ja, verstehe schon. Sie ist sehr selten. Ich weiß, dass sie sehr selten ist. Sie haben also keine … Haben Sie jemals eine verkauft?«

      Der Mann sieht Martty an und zuckt mit den Schultern.

      Martty: »Haben Sie … Haben — Sie — jemals … oh, Jesus Christus …« (kurze Pause) »Senior … Haben Sie einen Schwarz-Weiß-Film? Polaroid negro y blanco?«

      Mann: »Preto e branco? Nao nao nao senhor, … é raro. Compreende?«

      Martty: »Ja, ich verstehe, sehr selten.« (Seufzt.) »Okay … danke trotzdem. Ich muss weiter. Gracias! Schönen Tag noch. Adios …«

      Mann: »Lamento muito, senhor … Até logo!«

      Martty (schon bei der Tür draußen): »Verdammte Scheiße, dieses verfluchte Rattenloch … Lernen die kein Englisch, diese portugiesischen Bastarde?«

      Nach einer Weile geht der Ladenbesitzer nach draußen und überprüft, ob Martty noch in Sichtweite ist. Dann eilt er zurück in sein Geschäft und wählt eine Nummer. Jemand scheint abzuheben, und der Mann beginnt sehr aufgeregt und schnell zu sprechen — auf Portugiesisch natürlich.

      11

      Sagres, eine Stunde später.

      Martty sitzt in einem Boot mit einem kleinen Motor. Er kämpft gegen die Wellen an. Er versucht, nahe an die Klippen heranzukommen, doch es ist ziemlich mühsam, nicht allzu schnell zu werden, da sonst die Wellen das kleine Boot und Kapitän Martty an den Felsen zerschellen lassen würden. Er schwitzt und flucht. Immer wieder sieht er zu den Klippen hin und zur Ruine auf der anderen Seite der Bucht, um sich zu orientieren. Nach einem langen Kampf mit den Wellen sieht er über sich einen markanten Punkt in der Felsformation, den er vom Foto kennt. Einige Meter links davon müsste sich der Punkt befinden, an dem die Person aufgeschlagen sein musste. Er nähert sich den Klippen, kommt näher und näher. Scharfkantige Felsen befinden sich knapp unter der Wasseroberfläche, einige ragen aus dem Meer, aber er sieht nichts anderes. Wasser und Felsen. Wenn jemand bei Ebbe hier ins Wasser fällt, muss er von der Flut fortgespült werden, es sei denn der Kopf oder ein Arm verheddert sich irgendwo zwischen den Steinen. Martty weiß nicht einmal, ob gerade Ebbe oder Flut ist. Vielleicht ist der Leichnam zwei Meter unter dem Meeresspiegel, wenn gerade Flut ist …

      Martty sucht mehr als zwanzig Minuten und gibt schließlich auf. Gerade als er zurück zum Hafen fahren will, erfasst ihn eine große Welle, die ihn zehn, zwanzig Meter in Richtung Klippen spült. Eine zweite Welle erfasst das Boot, und Martty bekommt es mit der Angst zu tun. Das Boot könnte jeden Moment kentern. Plötzlich kracht es gegen einen Fels, der sich nur wenige Zentimeter unter der Wasseroberfläche befindet.

      Er entdeckt eine verweste Hand zwischen dem Boot und weiteren Felsen und kotzt das ganze Frühstück ins Meer. Von der Hand ist kaum mehr als Knochen übrig.

      Die Wellen lassen plötzlich ein wenig nach und geben Martty genügend Raum, sich zu erholen. Er sitzt im Boot und starrt die Knochenhand an. Das Boot schlägt weiterhin knarrend und ächzend an den Felsen, der immer noch von jeder kleinen Welle überflutet wird. Er nimmt einen nassen Fetzen, der im Boot liegt, und bekommt damit die Hand zu fassen. Sie steckt fest, aber Martty zieht fest daran wie ein Matrose, und die Hand bricht schließlich ab, sodass er nach hinten und fast über Bord fällt. »Jeeeeeezzz!!!!!