GlückLos. Elisabeth Martschini. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Elisabeth Martschini
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783960741657
Скачать книгу
die ganze Schule geflasht.“ Sprach’s, machte sich von den beiden Klassenkolleginnen los, drehte sich beleidigt um und ging. Wohin auch immer. Erika und Johanna interessierten sich jedenfalls nicht sonderlich dafür. Genau genommen interessierten sie sich gar nicht dafür, sondern waren einfach nur froh, Matti losgeworden zu sein. Besonders Johanna.

      „Was, glaubst du, war es wirklich?“, fragte Erika sie.

      „Keine Ahnung. Bei einem Unfall denke ich immer ans Auto, aber ich weiß gar nicht, ob der Glück überhaupt eines hatte. Vielleicht hatte der nur ein Fahrrad oder so.“

      „Ich habe ihn nie fahren gesehen, weder mit dem einen noch mit dem anderen. Aber das heißt nichts. Wenn er in Bad Au wohnt ...“

      „Gewohnt hat“, warf Johanna ein.

      „Ja, gewohnt hat“, korrigierte sich Erika, „dann hat er vielleicht einfach keines gebraucht, um in die Schule zu fahren.“

      „Manchmal braucht man kein Fahrzeug und fährt trotzdem.“ Johanna warf der Freundin einen verschmitzten Blick zu.

      „Du meinst ...“, entgegnete Erika, verstummte aber gleich wieder.

      „Ja, ich meine“, bestätigte Johanna die unvollendete Frage und fuhr fort: „Was ist eigentlich mit deiner Vespa? Hast du die Lust daran verloren oder warum bist du nur einmal damit in die Schule gefahren?“ Scherzhaft fügte sie hinzu: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie an diesem einen Tag schon alle von der Ersten bis zur Achten gesehen und ausreichend bewundert haben.“

      Erika schien einen Augenblick lang nicht zu wissen, ob sie der Freundin die Neckerei übel nehmen oder großzügig darüber hinwegsehen sollte. Sie entschloss sich für eine dritte Möglichkeit. „Weißt du, nach dem Unfall“, begann sie, „da habe ich mich so geschämt.“

      „Aber es war doch nicht deine Schuld!“, rief Johanna gleichermaßen entsetzt wie irritiert. „Oder?“

      „Nein, war es nicht, aber die haben gesagt, dass es meine Schuld war.“ Erika drehte den Kopf zur Seite, als würde sie immer noch von Schuldgefühlen geplagt werden.

      „Deine Schuld?“ Johanna starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an, viel weiter als vorhin, als Erika mit verstörtem Gesicht hinter Matti aufgetaucht war und gesagt hatte, dass die schwarze Fahne Professor Glücks wegen vor dem Eingang der Schule aufgezogen worden war. „Wie ist denn so etwas möglich?“

      „Ich bin angeblich zu dicht aufgefahren. Dabei hat der Idiot mich geschnitten und ist dann auf die Bremse gehampelt, sodass ich ihm ins Heck gekracht bin.“

      Falls das überhaupt möglich war, schaute Johanna die Freundin jetzt noch entgeisterter an. „Aber damit bringt man doch niemanden um“, stammelte sie, „ich meine, doch nicht mit einer Vespa!“

      „Umbringen?“ Nun war Erika an der Reihe, dumm aus der Wäsche zu schauen. Dann verstand sie. „Oh Gott, nein, nicht, was du glaubst. Mit dem Tod von Glück habe ich nichts, wirklich nicht das Geringste zu tun. Ich habe keine Ahnung, was da passiert ist.“

      „Hast du nicht?“ Jetzt verstand Johanna gar nichts mehr.

      Das konnte sie auch nicht, denn Erika hatte ihr nie etwas von dem Vespaunfall im vergangenen Frühling gesagt, bei dem sie von einem BMW geschnitten worden war, sodass die kleine rote Vespa, die erst einen Tag davor zugelassen worden war, an dessen Heck zerschellte. Nicht, dass Erika vergessen hätte, der Freundin davon zu erzählen, das hatte sie ganz bewusst unterlassen, eben aus Scham. Aber jetzt hatte sie vergessen, dass sie es Johanna nicht gesagt hatte. Oder vielleicht nicht unbedingt vergessen, sondern vielmehr erfolgreich verdrängt. Auch aus Scham, die diesmal immerhin begründet war, denn der besten Freundin etwas absichtlich zu verschweigen, war wirklich keine Sache, auf die man als Sechzehn- oder Siebzehnjährige stolz sein sollte. Wie übrigens auch im späteren Leben nicht.

      Bei einem Verkehrsunfall als schwächere Partei übervorteilt zu werden, war hingegen etwas, dessen sich eigentlich die andere Seite schämen sollte. Nur empfand Erika das nicht so. Deshalb das lange Schweigen. Und das Vergessen, das sich übrigens auch ein bisschen auf Johanna auswirkte. Nein, Erika hatte die Freundin nicht vergessen, selbst wenn diese in den vergangenen Monaten mitunter diesen Eindruck gehabt haben mochte. Nein, Johanna hatte selbst vergessen, dass Erika ihr, zugegeben in weniger als der gebotenen Kürze, mitgeteilt hatte, dass die Vespa kaputt wäre. Wenigstens hatte sie auf Johannas Frage nach dem geliebten Roller genau dieses Wort zur Antwort gegeben: kaputt. Was den Schluss, dass Erika damit den Zustand der Vespa beschrieb, nahelegte. So viel also zum Vergessen. Schweigen konnte Erika jetzt aus nachvollziehbaren Gründen nicht mehr. Dafür hatte sie schon zu viel gesagt.

      „Also“, begann sie deshalb, holte noch einmal tief Luft und erzählte Johanna in der Folge endlich von dem dummen Unfall, bei dem ihre neue, gebraucht gekaufte PK50 am zweiten Tag der Anmeldung kaputt gegangen war und für den sie, Erika, die Schuld bekommen hatte. Den – minimalen – Schaden am gegnerischen BMW hatte natürlich ihre Versicherung bezahlt, doch für den Schaden an der Vespa hatte sie selbst aufkommen müssen. Oder hätte sie müssen, denn tatsächlich waren alle ihre Ersparnisse in die Anschaffung des heiß ersehnten Fahrzeugs geflossen.

      „Das heißt, du bist seither gar nicht gefahren und wirst es auch nicht mehr tun?“ Johannas Mitgefühl war deutlich zu vernehmen.

      „Nicht ganz“, gab Erika zu. „Gefahren bin ich lange nicht. Ist gar nicht gegangen, ich habe schon Mühe gehabt, die Vespa nach Hause zu schieben. Aber im Sommer habe ich sie dann reparieren lassen. Nur“, meinte sie und ihre Stimme klang noch eine Nuance leiser, verschämter, „habe ich mich seither nicht getraut, mit der Vespa in die Schule zu fahren.“

      „Sicher“, pflichtete Johanna bei, „so ein Unfall kann jederzeit wieder passieren.“

      „Ja, natürlich“, erwiderte Erika, „und dieser Typ, Martin hat er geheißen, hat wirklich kurz drauf wieder einen Unfall gehabt und jetzt ist er tot.“

      „Echt?“

      „Ja“, bestätigte Erika lapidar. Mehr sagte sie nicht, vielleicht wieder einmal aus Scham, nämlich aus Scham über die Freude am Unfalltod des Herrn Martin.

      Johanna schien zu spüren, dass sie an dieser Stelle nicht weiterfragen sollte, und kam deshalb auf Erikas PK50 zurück. „War sicher teuer, die Reparatur deiner Vespa.“

      „Ja“, musste Erika zugeben, „aber ein netter Mechaniker hat sie mir schwarz repariert, damit das weniger kostet.“

      „Woher kennst du denn einen Mechaniker, der dir das macht?“, erkundigte Johanna sich.

      „Der Glück hat ihn mir vermittelt“, erklärte Erika, wobei sie auch dieses Mal einen Teil der Zusammenhänge verschwieg.

      „Echt? Wieso hat der denn so intensive Kontakte zu Mechanikern ... gehabt?“, überlegte Johanna. Und weiter grübelte sie, warum Erika den Musiklehrer ins Vertrauen gezogen, ihr selbst, Jojo, aber nicht ein Sterbenswörtchen verraten hatte. Doch sie unterdrückte die aufkeimende Eifersucht und formulierte stattdessen eine Schlussfolgerung, von der sie hoffte, dass sie einigermaßen klug und schlüssig war. „Das heißt, der Glück hatte über Umwege mit deinem Unfall zu tun, du aber nicht mit seinem. Wenn er enger mit einem Mechaniker bekannt ist ... äh, war, dann hatte er bestimmt ein Auto. Und mit diesem Auto wird er tödlich verunglückt sein.“ Sie sah Erika erwartungsvoll an. „Habe ich es getroffen?“, fragte sie.

      „Ich denke schon“, meinte die beste Freundin.

      Die Schule war also, in Mattis Worten, geflasht. Auf jeden Fall waren viele Schüler aufgrund von Professor Glücks Unfalltod aufgewühlt und unruhig, sodass der Verstorbene noch volle drei Tage das Gesprächsthema Nummer eins war. Selbstverständlich hatte sein unerwartetes Ableben auch für Unruhe und Nachdenklichkeit innerhalb der Lehrerschaft gesorgt. Allerdings waren die Kollegen bereits in den Ferien darüber informiert worden, damit sie die Nachricht verarbeiten, sich eventuell bei der Beerdigung sehen lassen und schließlich entsprechend gefasst vor die Schüler treten konnten. Soll noch einer sagen, Lehrer hätten