GlückLos. Elisabeth Martschini. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Elisabeth Martschini
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783960741657
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sie sie auch diesmal nicht, sondern diese Aufgabe großzügigerweise Doris überlassen, die in ihrer Helferrolle von Tag zu Tag mehr aufgeblüht war, bis ihre Blütenpracht alles andere überdeckt hatte und Maria Liliencron sich still und leise aus dem Staub hatte machen können. Beziehungsweise auf Elfriede Hirschhausers Rat hin den Sprung ins kalte Wasser des in trügerischer Weise so betitelten Thermalbades in Bad Au gewagt hatte. Erst in jenem Wasser, dessen Kälte ihr bis in die Knochen drang, war sie wieder aufgetaut. Die warme Septembersonne tat ein Übriges. In ihr schmolz der letzte Rest des Bedauerns über die ohnehin entschuldigte Abwesenheit von der Schule dahin.

      „Daran könnte ich mich glatt gewöhnen.“ Maria Calloni streckte sich auf ihrer Liege aus, schloss die Augen und hielt ihr Gesicht in die Sonne.

      „So wie du ausschaust, hast du dich eh schon daran gewöhnt – falls du die Sonne und das Nichtstun meinst.“

      Frau Calloni öffnete träge das rechte Auge. Das linke Lid war etwas lahm aufgrund eines leichten Schlaganfalls, wie er früher oder später fast jeden einmal traf, sofern man nicht zu den Besten gehörte und deshalb jung starb. Da jung zu sterben aber entschieden nicht zu Maria Callonis Lebensplan gehört hatte, hatte sie diesem ersten, zum Glück nur kleinen Schlaganfall nicht ausweichen und ihn nur überleben können. Seine Folgen versuchte sie nun, so gut es eben ging, zu verheimlichen, was ihr dank einiger Erfahrung in Sachen Geheimhaltung unangenehmer Dinge ganz gut gelang. Dass sie in der momentanen Situation nur das eine Auge öffnen konnte, kam ihr geradezu entgegen, denn auf diese Weise nahm ihr Gesicht einen tendenziell uninteressierten, zumindest gelangweilten Ausdruck an. Als würde sie gewissermaßen über den Dingen und über Lise Vrabec’ Bemerkung stehen, obwohl sie eigentlich auf ihrer Badeliege auf der Terrasse des Bad Auer Thermalbads lag.

      „Wie meinst du das, liebe Lise?“

      „Ich meine gar nichts, liebe Mitzi, außer dass du den Sommer über nicht viel anderes getan hast, als in der Sonne zu liegen und deine alte Haut rösten zu lassen.“

      „Das ist doch gar nicht wahr“, verteidigte sich Mitzi Calloni.

      „Womit sie recht hat“, mischte sich eine dritte Stimme in die Auseinandersetzung. „Hin und wieder war sie auch im Café Sisi.“

      „Danke, Gerti“, sagte Frau Calloni mit wieder geschlossenen Augen, „obwohl ich nicht sicher bin, ob du das so nett meinst, wie es geklungen hat.“

      „Du glaubst doch nicht, dass sie auf deine Figur anspielt, die in den letzten Monaten doch ein bisserl gelitten hat. Immerhin sind die zahlreichen Herrentorten und Punschkrapferl und was weiß ich, was sonst noch, nicht spurlos an dir vorübergegangen“, warf Lise Vrabec ein.

      „Du meinst: durch sie hindurchgegangen“, korrigierte die dritte Stimme, die Frau Calloni einer gewissen Gerti zugeschrieben oder vielmehr zugesprochen hatte.

      Mitzi Calloni wäre jetzt gerne mit einem Ruck hochgefahren, um die herzlosen Freundinnen für ihre spitzen Bemerkungen mit einem beidäugigen bösen Blick zu strafen, aber das war aus mehreren Gründen nicht möglich. So fügte sie sich wohl oder übel in ihre Rolle der Makrone, Verzeihung, Matrone, der keinerlei Kritik etwas anhaben konnte.

      „Pah, in dem Alter ist die Figur doch wurscht“, sagte sie und versuchte, den beleidigten Ton zu unterdrücken, der ihre Worte unbedingt begleiten zu wollen schien.

      „Sicher“, meinte Lise Vrabec trocken. „Knackwurscht. Besonders in einem schweinchenrosa Badeanzug, von dem sich deine Haut übrigens schokoladenbraun abhebt.“

      „Vergiss nicht, liebste Lise“, erwiderte Mitzi Calloni wieder zuckersüß, „dass du mich jedes Mal ins Café Sisi begleitet hast. Ich bin mir absolut sicher, dass ein paar Stückchen Torte ihren Weg auch auf deinen Teller und, nebenbei gesagt, deine Hüften gefunden haben.“

      Hätte die Calloni ihre Augen jetzt geöffnet und sie auf die neben ihr liegende Freundin gerichtet, hätte sie die tiefe Röte entdeckt, die das faltige Gesicht trotz der mittleren Bräune überzog. So aber sah sie nichts. Man konnte seine Augen nicht überall haben.

      „Außerdem“, fuhr sie stattdessen fort, „darf ich es mir auf meine alten Tage doch wohl ein bisserl gut gehen lassen.“

      „Fang nicht schon wieder mit deinen Ehemännern an“, bat Gerti.

      Dabei hätte es über diese Ehemänner viel zu erzählen gegeben, denn immerhin konnte Maria Calloni, geborene Schuster, auf deren drei zurückblicken. Das war in der heutigen Zeit zwar keine große Besonderheit, denn da gab es eine ganze Reihe von Wieder- und Wieder- und Wiederverheirateten, im Volksmund Wiederholungstäter genannt, obwohl die Ehe an sich ja noch kein Verbrechen darstellte, genauso wenig wie die Scheidung, wenigstens in unseren Breiten nicht. Sie konnte höchstens als perfekter Nährboden für Verbrechen bezeichnet werden, insofern viele Gewalttaten erst aus dem angeblich freiwilligen, tatsächlich aber vielfach gesellschaftlich erzwungenen allzu engen Zusammen-, Nebeneinander- und schließlich Gegeneinanderleben resultierten.

      Mit anderen Worten: Allein die Tatsache, dass sie dreimal verheiratet gewesen war, verschaffte Mitzi Calloni noch nicht den Status, den sie bei ihren Freunden, Feinden und weitläufigen Bekannten hatte. Dieser lag zum einen in ihrem Alter begründet. Bei den, laut Hildegard Binsen, zehn Jahren, die österreichische Eheleute durchschnittlich miteinander verbrachten, bevor sie nicht mehr nur das Geschirr, sondern auch das Handtuch warfen – wobei sich das Adjektiv österreichisch rein auf die geografische Lage des gemeinsamen Haushalts bezieht und nichts über Nationalitäten und Migrationshintergründe ausgesagt haben will –, hätten, inklusive einem Jahr der Selbstsuche und Partnerfindung, dreiundfünfzig Lebensjahre ausgereicht, wenn man die erste Heirat mit einundzwanzig ansetzte.

      Einundzwanzig Jahre alt war Mitzi Schuster tatsächlich gewesen, als sie ihren Rudolf Bauer geheiratet und damit den Beruf gewechselt hatte, indem sie die wohlbehütende Schwesternrolle aufgegeben und die der treusorgenden Ehefrau angenommen hatte.

      Das lag jetzt allerdings schon einundsechzig Jahre zurück, war eigentlich gar nicht mehr wahr, wie man so schön sagte oder wie zumindest Mitzi, geborene Schuster, es die anderen so gerne glauben machen wollte. Denn damals ließ man sich nicht so einfach von seinem Göttergatten scheiden, selbst wenn man den schon lange nicht mehr anbetete, sondern höchstens um ein paar Schilling anbettelte. Auch zehn Jahre nach der Hochzeit ließ man sich nicht so einfach scheiden. Dabei war Mitzi – um Verwirrungen vorzubeugen, verzichten wir vorläufig auf den Nachnamen, wie es auch die weitläufigen Bekannten irgendwann getan hatten, weil sie auf den jeweils aktuellen Stand zu bringen Mitzi bald zu mühsam geworden war.

      Mitzi also war zehn Jahre nach ihrer ersten Hochzeit bereits zum zweiten Mal verheiratet. Allerdings ohne geschieden worden zu sein. Das hätte sich nicht gut gemacht. In der kleinen Kurstadt Bad Au nicht und in dem noch kleineren Bosdorf, wohin sie mit ihrem zweiten Ehemann gezogen war, erst recht nicht. Aber gegen eine wiederverheiratete Witwe konnte niemand etwas sagen, die katholische Kirche nicht und darum auch der liebe Gott nicht. Und nicht einmal die Leute in Bad Au, wohin Mitzi Calloni mit ihrem dritten Ehemann, einem italienischstämmigen Operettensänger, und einigem Widerwillen gezogen war.

      Es versteht sich von selbst, dass auch die zweite Ehe nicht durch eine Scheidung beendet worden war. Genauso wenig übrigens wie die dritte. Darin lag der zweite, gewichtigere Grund für Mitzi Callonis Sonderstatus.

      Die geborene Schuster und inzwischen schon lange verwitwete Calloni hätte also viel zu erzählen gehabt. Sie erzählte auch viel – manchmal zu viel, wie ihre Freundinnen Lise Vrabec und Gerti Haberhauer, die dritte Stimme im Damenchor, meinten –, aber eben doch nicht alles. Dieses alles hätten die Bewohner von Bad Au auch im 21. Jahrhundert nicht hören wollen. Das heißt, hören hätten sie es schon wollen, aber geschluckt hätten sie es nicht so leicht wie Petra Sandors herrliche Buttercremetorten.

      Weil nun das eine nicht gehört werden wollte und das andere nicht geschluckt werden konnte, deshalb nicht gehört werden durfte und in weiterer Folge nicht erzählt werden sollte, schwieg Mitzi Calloni, scheinbar beziehungsweise hörbar oder noch besser unhörbar überlegen, und ließ sich die Sonne auf den schokoladenbraunen Altfrauenkörper scheinen,