„Ach so“, sagte Alois Hirschhauser kleinlaut und widmete sich seinem Marmorguglhupf, den er heute statt der üblichen Torte bestellt hatte. Wenigstens hierbei an alten Traditionen festhaltend, trennte er mit der Gabel fein säuberlich die hellen von den dunklen Teigpartien. Eine liebe Gewohnheit aus seinen sehr jungen Jahren, auch Kindheit genannt.
„Woher weißt du überhaupt von dem Unfall?“, fragte Hildegard Binsen jetzt.
„Von meiner Enkelin, der Elfi. Die ist Therapeutin und betreut die Frau, die das Unfallfahrzeug gelenkt hat“, erklärte ihr Begleiter.
„Die das Unfallfahrzeug gelenkt hat“, äffte Frau Binsen, der heute mehr als eine Laus in den Kaffee gefallen sein musste, ihn nach. „Wie du heute sprichst, Pardon, wie du dich ausdrückst: Unfallfahrzeug und verstorben.“
„Nein, das Fahrzeug ist nicht ...“
„Ich weiß, dass das Fahrzeug nicht verstorben ist. Aber wieso braucht diese Frau eine Therapie? Ist sie bei dem Unfall auch verletzt worden?“
„Nein, ja, also von der Lenkerin des Unfallfahrzeugs spricht die Elfi immer. Das sagt man so. Und dass sie psychisch einen Schaden davongetragen hat. Sie kann nicht mehr arbeiten, weil sie diesen Mann gekannt hat. Deshalb kommt sie jetzt zur Elfi.“
Alois Hirschhauser blickte seine Freundin unsicher an, als wäre ihm selbst seine Rede nicht ganz durchsichtig. Vielleicht fürchtete er aber auch nur, dass er Hildegard Binsen mit einer unbeholfenen Formulierung aufs Neue verärgert hatte. Tatsächlich schienen sich die Falten auf der Stirn der alten Dame weiter vertieft zu haben.
„Weil diese Frau also versehentlich – es war doch sicherlich ein Versehen? – einen Bekannten überfahren hat, geht sie jetzt bei deiner Enkelin Elfriede in Therapie?“, fragte sie.
„Genau“, gab Alois Hirschhauser erleichtert zur Antwort, „sie ist nämlich Psychologin, die Elfi.“
Herrn Hirschhausers Erleichterung währte freilich nur kurz, denn für Hildegard Binsen war das Thema keineswegs abgeschlossen.
„Das hätte es früher nicht gegeben“, stellte sie fest, „Psychologen und so. Das haben wir alles nicht gebraucht.“
„Gegeben hat es die nicht“, stimmte Herr Hirschhauser ihr zu, „aber gebraucht hätten wir sie vielleicht schon manchmal. Damals nach dem Krieg zum Beispiel.“
„Papperlapapp, wenn wir sie gebraucht hätten, hätte es sie auch gegeben. Es gibt alles, wenn es gebraucht wird. Das heißt Marktwirtschaft!“
„Gar nicht wahr!“, begehrte Alois Hirschhauser auf. „Heute hätte ich zum Beispiel eine Herrentorte gebraucht, aber die ist aus, hat die Petra gesagt ...“
Kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, hätte er sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Nicht in erster Linie, weil er statt Frau Sandor oder seinetwegen Fräulein Sandor schlicht Petra gesagt hatte. Das tat er im vertraulichen Gespräch mit seiner Hildegard nämlich ganz gerne, wenn er nicht gerade aus Versehen von der Piroschka sprach, sondern weil er mit dieser Bemerkung Öl ins Feuer gegossen zu haben befürchtete.
Doch vorerst warf ihm Frau Doktor Binsen nur einen Blick zu, als wäre er ein hoffnungsloser Dummkopf und nicht ernst zu nehmen. Dann seufzte sie und meinte schulterzuckend: „Sprechen wir über etwas anderes, zum Beispiel über Petra Jellacic.“
„Windsperger“, murmelte Alois Hirschhauser, der berechtigte Sorge hatte, dass heute jedes seiner Worte der hildegardschen Zensur unterworfen würde.
„Was sagst du?“, wollte seine Begleiterin denn auch sofort wissen.
„Ich habe nur gemeint, dass Petra Jellacic jetzt Windsperger heißt. Sie hat doch diesen ... diesen – wie heißt er noch einmal? – geheiratet.“
„Windsperger“, antwortete Hildegard Binsen sachlich korrekt.
„Natürlich, Windsperger, sonst würde die Petra ja nicht so heißen. Georg“, überlegte er dann, „heißt er nicht Georg?“
„Es spielt doch keine Rolle, wie er heißt. Außerdem hätte die Petra ja ihren Namen behalten können. Heutzutage ist das möglich. Wäre auch besser gewesen, als sich jetzt, kaum dass ich mir den alten Namen gemerkt habe, einen neuen geben zu lassen.“
„Na, da hat sie die ersten fünfunddreißig Jahre ihres Lebens Jellacic geheißen, nun kann sie doch die nächsten fünfunddreißig Windsperger heißen“, meinte Alois Hirschhauser.
„Zehn“, gab Hildegard Binsen zurück.
„Zehn was?“ Herr Hirschhauser schien nicht ganz bei der Sache zu sein. Außerdem ruhten seine Augen nicht mehr auf seiner lieben Hildegard.
„Zehn Jahre natürlich“, gab die liebe Hildegard scharf zur Antwort. „So lange dauert eine durchschnittliche österreichische Ehe heutzutage.“
„Eigentlich macht das nichts aus“, überlegte Alois Hirschhauser.
„Was heißt, es macht nichts aus?“, fragte Hildegard Binsen, die sich gerade mit der Hand an den Hinterkopf gegriffen hatte, irritiert und hielt in der Bewegung inne. Die Finger verblieben am Hinterkopf, wo sie gerade den Sitz der Haarnadeln überprüfen wollten, damit sich die zu einem kunstvollen Gebilde aufgetürmten weißen Strähnen nicht womöglich selbständig machten und medusenartig um den Kopf der alten Dame mit dem erheirateten Doktortitel schlängen. Was allein deshalb schon unerhört gewesen wäre, weil jene Zeiten, als man den Konjunktiv Präteritum des starken Verbs schlingen selbstverständlich zu gebrauchen gewusst hatte, definitiv noch um einiges weiter zurücklagen als die Tage, in denen man – oder eigentlich frau – sich einen Doktor- oder sonstigen Titel erheiraten hatte können. Weshalb das unselige Geschlängel also Frau Doktor Binsen noch nie zu Ohren gekommen und in der Folge darauf zu achten war, dass diese ganz bestimmt nicht jungfräulichen, vielleicht aber immerhin unschuldigen Ohren vor herunterfallenden Haarschlingen sicher wären.
Momentan schien an Hildegard Binsen aber ohnehin alles erstarrt zu sein, das ihren Kopf zierende Haarkunstwerk ebenso wie ihre Hand. Und übrigens auch der Blick, den sie auf Alois Hirschhauser gerichtet hielt.
„Wieso macht es nichts aus, dass eine Durchschnittsehe heutzutage nur zehn Jahre dauert? Meiner Meinung nach zeugt das von einem Verfall unserer gesellschaftlichen Werte“, hakte Hildegard Binsen nach und ließ den Arm samt Hand nun doch in Richtung Tischplatte sinken, wo selbstverständlich nicht der ganze Arm zu liegen kam, nicht einmal der ganze Unterarm, sondern nur die zarte Altdamenhand ab dem Handgelenk. Frau Doktor Binsen wusste schließlich, was sich gehörte.
Nur was sie gehört hatte, wusste sie trotz ihres heute ganz besonders empfindsamen Gehörs nicht oder zweifelte zumindest daran, dass sie richtig verstanden hatte. Deshalb die wiederholte Nachfrage.
Herr Hirschhauser gab trotzdem nur einmal darauf Antwort, sehr gemächlich und völlig unaufgeregt. „Dass dieser junge Mann, an den du dich nicht erinnern kannst oder willst, nicht mehr ins Café Sisi kommt, das macht nichts aus“, sagte er, „zumindest nicht für das Geschäft.“ Und weil das genau genommen immer noch keine Antwort auf die Frage nach dem Warum beziehungsweise Wieso der Hildegard Binsen, sondern bestenfalls die Beseitigung eines Missverständnisses war, fügte er hinzu: „Weil da gerade ein Ersatz für ihn hereingekommen ist.“ Und er deutete mit einem dezenten Kopfnicken oder -rucken zu dem Mann, der soeben das Lokal durchquert und sich an dem Tischchen beim Fenster niedergelassen hatte.
Petra Sandor hatte den neuen Gast ebenfalls bemerkt und trat, den Block für die Aufnahme der Bestellung in der Hand, an dessen Tisch. Der Block wäre für eine Tasse Kaffee und eine Mehlspeise – welcher Art auch immer – natürlich nicht unbedingt notwendig gewesen, aber die junge Frau Sandor schrieb Bestellungen grundsätzlich lieber auf, damit alles seine Ordnung hatte. So mochten es die Gäste des Café Sisi.
„Grüß Gott, was darf es denn sein ... Herr Inspektor?“, fragte sie und kratzte damit