Im Anschluss an den Schulgottesdienst erwartete Frau Professor Zeppezauer ihre Schüler im Klassenraum. Freilich nicht alle ihre Schüler, aber doch jenen bunten Haufen spätpubertärer Jugendlicher, den die Schulverwaltung unter 7a führte und dessen Klassenvorstand sie war.
Dass Frau Zeppezauer – den unsäglichen Professorentitel lassen wir ausnahmsweise weg, obwohl man gerade in Bad Au große Stücke auf Titel aller Art hielt, doch fügen wir als Ersatz dafür vielleicht den Vornamen, Cäcilia, hinzu, auf dass aus dem Unsäglichen eine mehr oder weniger geglückte Alliteration werde – dass also Frau Cäcilia Zeppezauer auf ihre Schüler wartete, war so natürlich nicht geplant, denn im Allgemeinen hatten die Schüler auf die Lehrer zu warten. Je länger, umso lieber, weshalb die drahtige Zeppezauer mit den leicht ergrauten Haaren bei den Schülern auf der Beliebtheitsskala auch nicht an erster Stelle rangierte, betrug ihr Zuspätkommen nach dem Läuten doch meist nur eine, maximal zwei Minuten. Ausnahmen bestätigten die Regel, wie der letzte Schultag vor den Ferien gezeigt hatte, als die 7a, die damals freilich noch die 6a gewesen war, nicht nur lange, sondern sogar vergeblich auf ihren Klassenvorstand gewartet hatte. Aber das gehörte der Vergangenheit an. Vorerst jedenfalls noch.
Am ersten Schultag nach den Ferien stand hingegen die Klassenvorständin in Warteposition, weil sich die fromme Schülerschaft offensichtlich auf dem Weg vom Gottesdienst zum Unterricht, der heute ohnehin noch nicht guten Gewissens als solcher bezeichnet werden konnte, verspätete. Freilich hätten sich jene Schüler, die ihrer offiziellen Konfession oder ihres inneren Schweinehundes wegen nicht am Gottesdienst teilgenommen hatten, pünktlich im Klassenzimmer einfinden können. Mit anderen Worten: Bis auf einen oder zwei hätte die gesamte 7a bereits hier sein und Cäcilia Zeppezauers Begrüßungsworten lauschen können.
Die immer auf Korrektheit und vorgeblich auch auf Strenge bedachte Lehrerin ärgerte sich. Dabei waren der Grund dieses Ärgers gar nicht unbedingt die Schüler oder deren frömmigkeits- beziehungsweise faulheitsbedingte Verspätung. Was Frau Zeppezauers Unwillen erregte, war vielmehr der Gottesdienst selbst. Nein, eigentlich auch nicht der Gottesdienst, denn der ließ sich genau so wenig zur Verantwortung ziehen wie irgendein Gott, dem damit gedient sein sollte. Es waren wie immer die Menschen, die die Religion für ihre Zwecke instrumentalisierten. In diesem Fall ein einziger, ganz bestimmter Mensch. Nämlich jener, der entgegen der vom alten Direktor Dippelbauer erlassenen Gottesdienstamnestie dieses Relikt aus schwarzer Vorzeit wieder eingeführt hatte.
„Wie war der Gottesdienst?“, fragte die Lehrerin jetzt Gabriele und Markus, die als Erste – endlich! – zur Tür hereinkamen.
„Okay“, lautete Markus’ lapidare Antwort.
„Ganz gut“, meinte Gabriele und gab genauere Auskunft, indem sie sogar die Verspätung erklärte. „Die zweiten Klassen haben so einen schönen Chorgesang einstudiert, der aber leider ein bisschen länger als normal gedauert hat. Tut uns leid, dass wir erst jetzt kommen. Wo sind die anderen?“ Gabriele blickte sich suchend um.
„Gott weiß“, seufzte Cäcilia Zeppezauer, obwohl sie es mit Gott gar nicht so zu haben schien, denn sonst wäre sie wohl selbst bei der Schulmesse gewesen. Aber vielleicht meinte sie auch einen anderen Gott, der sich für die außerhalb des ökumenischen Gottesdienstes stattfindenden Dinge zuständig fühlen sollte.
„Ein paar habe ich im Lehrertrakt stehen sehen“, sagte Markus.
„Ich hab’s befürchtet“, kommentierte die Klassenvorständin diese spärliche Information, wofür sie von den beiden Schülern einen fragenden Blick erntete.
„Es hat in den Ferien einen Todesfall gegeben ...“ Sie brach ab.
„Ah, die schwarze Fahne“, meinte Gabriele.
„Ja, die schwarze Fahne.“
„Wer?“, wollte Gabriele verständlicherweise wissen.
Da betrat Kevin das Klassenzimmer und ihm folgte nach und nach der ganze Rest der 7a. Als endlich alle Schüler auf ihren Plätzen saßen – auf Plätzen, die nach den geringfügigen personellen Veränderungen, bedingt durch Abgänge und Repetenten, wieder einmal neu vergeben werden mussten –, begann Frau Cäcilia Zeppezauer ihre Begrüßungsrede, die so anders ausfallen musste als in den vergangenen Jahren.
„Es hat in den Ferien einen Todesfall gegeben“, wiederholte sie ihre Worte von vorhin.
„Professor Glück“, ertönten ein paar Stimmen.
„Ja, Professor Eckart Glück. Ich sehe, ihr habt es bereits gelesen.“
Ausnahmsweise lauschten die Schüler gebannt oder hätten gerne den weiteren Worten der Lehrerin gelauscht. Jedoch sprach sie nicht weiter. So souverän Cäcilia Zeppezauer sich nach außen gab, so empfindsam war sie hinter der gestrengen Fassade. Und dieser Unglücksfall ging ihr zu Herzen. In der Zeitung las man darüber hinweg, nahm solche Kurznotizen höchstens am Rande, wo sie ja auch meistens positioniert waren, wahr. Ein Toter, ein Verletzter oder zwei, leicht oder schwer – was machte das schon aus, wenn es jemanden betraf, dem man noch nie in seinem Leben begegnet war und, im Falle eines Todesopfers, auch nicht mehr begegnen würde?
Aber Eckart Glück war sie zwangsläufig begegnet: auf dem Gang, im Konferenzzimmer, bei Besprechungen. Und auch wenn sie nicht mehr miteinander zu tun gehabt hatten – Mathematik und Musik harmonierten nur theoretisch miteinander –, fiel es ihr jetzt doch schwer, zu den Schülern über seinen Tod zu sprechen. Zumal man bei sechzehn- bis achtzehnjährigen Gymnasiasten nicht wissen konnte, wie sie auf den Tod eines Lehrers reagieren würden. Ob sie Eckart gemocht hatten? Grundsätzlich, überlegte Cäcilia Zeppezauer, hatten Musiklehrer wahrscheinlich größere Chancen, von ihren Schülern gemocht zu werden, als Mathematiklehrer. Aber hundertprozentig sicher war sie sich nicht, Wahrscheinlichkeit hin oder her.
Dazu kam das Alter. Nein, nicht das des Toten, obwohl es ihn natürlich ungewöhnlich jung erwischt hatte. Wenn jemand vor der Pensionierung starb, war das zwar für den Staatshaushalt ein Glücksfall, in Bezug auf die allgemein übliche Lebensplanung aber eindeutig zu früh. Sorgen machte Frau Zeppezauer darum das Alter der Schüler. In dieser Phase ihres Lebens musste man bei Jugendlichen mit absolut allem rechnen. Mit blöden Sprüchen über den Verstorbenen ebenso wie mit unverhältnismäßigen emotionalen Reaktionen, die da wären: Weinkrämpfe, lautes Klagen oder – im besten Fall – Verstummen, das womöglich über Tage hinweg anhielt, was dann auch irgendwann lästig wurde. Mit Psyche und Psychologie bei Jugendlichen tat die Lehrerin sich zugegebenermaßen schwer. Wie leicht konnte man hier etwas falsch machen.
„Es war ein Unfall“, erklärte sie und ging zur Tagesordnung über, die den provisorischen Stundenplan der kommenden Tage, die Ausgabe der Bücher für das neue Schuljahr und als schwierigsten Punkt die endgültige Sitzordnung beinhaltete.
„Was glaubt ihr, was das für ein Unfall war?“ Matti war Erika und Johanna nachgeeilt, die nach der Unterrichtsstunde mit der Klassenvorständin, die eher eine Besprechung gewesen war, insofern Frau Zeppezauer sie besprochen, also ihnen alle ihrer oder der Direktorin Meinung nach wichtigen Informationen mitgeteilt hatte, den Klassenraum möglichst schnell verlassen hatten. Die vermutliche Absicht hinter ihrem eiligen Abgang war das Bedürfnis, die Neuigkeiten allein beziehungsweise unter vier Freundinnenaugen zu diskutieren. Eine Absicht, die Matti, die sich jetzt zwischen die beiden drängte und sich gut gelaunt einzuhängen versuchte, boykottierte.
„Nun, was meint ihr?“, hakte sie nach, da weder Erika noch Johanna sie einer Antwort würdigten.
„Weiß nicht“, sagte Erika schließlich gedehnt, „kann alles Mögliche gewesen sein.“
„Sicher“, entgegnete Matti, die an der Klärung des Falls brennend interessiert schien. „Auch eine Überdosis ist ja oft nur ein Unfall. Wenn man Pech hat ...“
„Du mit deinen Drogengeschichten!“, blaffte Johanna sie an, wobei unklar blieb, ob sie damit Mattis Gerede über einen möglichen Drogenmissbrauch oder gar eine Drogenabhängigkeit des verstorbenen Musiklehrers