• Droht ein akuter Konflikt zu eskalieren, ist es ratsam, eine kurzzeitige räumliche Trennung der beiden Streithähne vorzunehmen, um den Abbau von Aggressionen zu ermöglichen. Dies sollte so früh wie möglich, am besten schon im Vorschulalter und in der Familie, praktiziert werden.
Wichtig ist es, von Anfang an so weit wie möglich ein gutes soziales Umfeld zu pflegen, in dem mit gegenseitiger Achtung und Wertschätzung emotional liebe- und verständnisvoll miteinander umgegangen wird. Folgende Strategien sind Familien mit AD(H)S-Betroffenen zu empfehlen, um mit aggressivem Verhalten, auch präventiv, umzugehen:
• Wichtig ist die positive Vorbildwirkung aller Familienmitglieder! Denn die meisten Verhaltensmuster übernehmen die Kinder von ihren Eltern. Also dem Kind das vorleben, was von ihm erwartet wird. Dabei nicht viel polemisieren, sondern mit kurzer klarer Ansprache dem Kind zeigen, wie es sich verhalten soll. Oder besser noch: wichtige Verhaltenskorrekturen vormachen, gewünschtes Verhalten üben, schriftlich vereinbaren und dann auf dessen konsequente Einhaltung achten und diese loben
• Klar definierte Grenzen formulieren
• Auf unerwünschtes Verhalten möglichst nicht sofort reagieren. Aber zeitversetzt, wenn sich die Situation beruhigt hat, darüber sprechen und dieses gemeinsam korrigieren
• Dabei keine negativen Dinge aus der Vergangenheit hervorholen, keine gegenseitigen Vorwürfe dulden, immer mit Lob beginnen
• Bei aggressiven Ausbrüchen das Gespräch sofort abbrechen, sich räumlich trennen, um sich zu beruhigen und erst wieder das Zimmer betreten, nachdem die Erregung abgeklungen ist
• Dem Kind zeigen, wie es sich sozial angepasst abreagieren kann: z. B. gegen einen Boxsack oder auf ein Kissen schlagen
• AD(H)Sler haben meist ein schnelles und hohes Erregungspotential, das sie nur schwer beherrschen können. Da sich AD(H)S vererbt, können die Eltern ungewollt ähnliches Verhalten zeigen: Deshalb auch als Mutter und Vater sich selber gegenüber Selbstkontrolle und Aggressionsabbau einfordern und mit Einfühlungsvermögen und Verständnis zeigen und erklären, wie z. B. ein solches Verhalten auf andere wirkt; deshalb sich immer wieder als Eltern auch selbstkritisch fragen: »Wie beurteilen andere unser eigenes Verhalten?«
• Mögliche Handlungsfolgen aus Sicht des Gegenübers aufzeigen und mit versöhnender Geste erwünschtes Verhalten als Anleitung zum Üben vormachen
• Kritische Situationen durch Humor entschärfen
Flippt das Kind aus und die Situation droht zu eskalieren, ist Eltern und Lehrern folgendes Krisenmanagement zu empfehlen:
• Bewahren Sie Ruhe und reagieren Sie möglichst gleichgültig
• Handeln Sie nicht vorschnell und verzichten Sie auf unüberlegte Schuldzuweisungen
• Meiden Sie Blickkontakt, senken Sie die Stimme, verhalten Sie sich ruhig und wenden Sie sich ab
• Reden Sie nicht auf das Kind ein, denn es ist gestresst und nicht aufnahmefähig
• Lassen Sie das Kind zunächst sich beruhigen, stellen Sie dann eventuell Körperkontakt her
• Lassen Sie genügend Zeit verstreichen, bis die Erregung bei allen abgeklungen ist, verlassen Sie dafür eventuell das Zimmer für eine kurze räumliche Trennung
• Nehmen Sie aggressive Äußerungen nicht persönlich
• Führen Sie mit dem Kind nach einem angemessenen Zeitraum (nicht zu kurz, nicht zu lang) ein klärendes Gespräch mit gemeinsamer Aussprache, vereinbaren Sie dabei gemeinsam eine Lösungsvariante
2.9 Verhaltensstrategien zum Beherrschen der äußeren und inneren Unruhe
Das Schaukeln oder mit dem Stuhl-Kippeln läuft bei hyperaktiven Kindern automatisch ab, genau wie viele andere Handlungen, die die Betroffenen selbst nicht bewusst wahrnehmen und nur kurzzeitig unterdrücken können. Je mehr das ADHS-Kind kritisiert und aufgefordert wird, dieses Verhalten endlich zu unterlassen, umso mehr steigt sein Erregungspotential, was es dann automatisch wieder über Bewegung (z. B. Schaukeln) abreagiert (und auch abreagieren muss). Zeigen Sie als Mutter, Vater oder Lehrer deshalb dem Kind in einer entspannten Situation, wie es seinen Bewegungsdrang und seine innere Unruhe kurzzeitig angemessen abreagieren kann, ohne andere zu stören. Dazu haben sich in meiner Praxis drei Übungen bewährt, die in jedem Alter erfolgreich angewandt werden können:
1. Beiderseits eine Faust machen, möglichst unsichtbar z. B. unter dem Tisch, den Daumen innen fest zusammendrücken und ruhig atmen. Den Druck solange wie möglich aushalten, dann die Faust öffnen, ruhig atmen und die Entspannung genießen.
2. Die Sitzfläche des Stuhles seitlich fest mit den Handflächen umfassen, die Handflächen fest zusammendrücken und dabei den Stuhlrand solange wie möglich fest drücken. Danach Hände öffnen, Entspannung genießen, ruhig, bewusst und langsam atmen.
3. Beide Fußsohlen im Sitzen fest auf den Boden drücken, bis die Waden zu schmerzen beginnen, dann locker lassen, Beine ausstrecken, tief atmen und die Entspannung genießen.
Alle drei Übungen helfen, die innere und äußere Unruhe abzureagieren. Sie erleichtern das Stillsitzen und verbessern die Konzentrationsfähigkeit. Auch hier ist es wichtig, diese Übungen mehrmals vorher zu Hause üben, damit sie automatisch und nebenbei ablaufen können, ohne die geforderte Aufmerksamkeit zu beeinträchtigen.
Weitere Möglichkeiten Unruhe abzureagieren, bieten alle Arten von anstrengender körperlicher Bewegung. Stets gilt dabei das Prinzip: Erst kurz sich auspowern, danach die Ruhe bewusst genießen.
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Sport und Bewegung – wichtige Bestandteile jeder AD(H)S-Therapie
3.1 Warum Bewegung und Sport so wichtig sind
Schon Säuglinge und Kleinkinder sollten gezielt spielerisch motorisch ihrem Alter entsprechend üben, was ihrer gesamten Entwicklung zugute kommt. Die dabei geförderten motorischen Nervenbahnen bilden eine Basis für die Entwicklung der kognitiven Bahnen, also der Denk- und Lernbahnen. Diese aus der Entwicklungsneurologie gewonnene Erkenntnis ist für beide Haupttypen des AD(H)S sehr wichtig. So können hyperaktive Kinder aufgrund ihres großen Bewegungsdranges, verbunden mit ihrer kreativen Neugierde, ein stabiles Netzwerk von motorischen Nervenbahnen aufbauen, das ihnen schon früh Sicherheit und Selbstvertrauen gibt. Sie klettern beispielsweise sehr geschickt und sicher hoch hinauf und genießen den Erfolg. Ihre motorischen Bahnen bilden so ein dichtes und festes Nervengeflecht, das von den kognitiven Bahnen genutzt wird, so dass diese Kinder später häufig viel schneller als ihre nicht vom AD(H)S betroffenen Altersgenossen denken und reagieren können.
Die Motorik der Kinder mit einer Anlage zum ADS ohne Hyperaktivität entwickelt sich dagegen viel langsamer und schwächer. Sie sind von Anfang an weniger bewegungsaktiv, stehen mehr herum und beobachten. Sie sind viel zu ängstlich, um wie die Hyperaktiven auf Schränke und Bäume zu klettern. Ihre motorischen Nervenbahnen entwickeln sich dadurch weniger dicht und fest, Bewegungsmuster können sich weniger schnell und gut automatisieren. Jede ihrer Bewegungen müssen sie planen und die vorhandene Unsicherheit überwinden. Die kognitiven Bahnen dieser hypoaktiven Kinder haben eine viel geringere Basis, so dass ihr Denken und Handeln später in aller Regel langsamer sein wird. Neurobiologisch gesehen ist somit der Begriff der »Hypoaktivität« für Betroffene mit einem ADS ohne Hyperaktivität aus meiner Sicht durchaus gerechtfertigt, denn sie sind nicht nur unaufmerksam, sondern eben auch überdurchschnittlich weniger bewegungsfreudig und flexibel.
Eine gezielte spielerische motorische Frühförderung beeinflusst positiv die gesamte Entwicklung der Kinder mit einem AD(H)S ohne Hyperaktivität. Leider wird dies in der Praxis bisher noch viel zu wenig berücksichtigt.
Schon den älteren Säuglingen sollte z. B. das Krabbeln gezeigt werden: Immer wieder schauen mich viele Eltern ganz entsetzt